Jörg Drews: Eigenbrötler, Chorleiter, Clown. Nachruf auf Walter Kempowski
Im Alter von 78 Jahren starb der Schriftsteller Walter Kempowski. Er war ein grenzenlos Getriebener, erfüllt von großem Ehrgeiz, und konnte doch ganz demütig sein.
Jetzt ist er tot, der meist so freundliche kleine und schmale Mann, dem man jenes wahrhaft riesige literarische und archivarische Werk physisch gar nicht zugetraut hätte, das er in über vierzig Jahren schuf. Dabei hat er bis vor wenigen Monaten nicht nur Pläne gemacht, sondern noch zäh und behende an mehreren Vorhaben zugleich gearbeitet, und als er mir vorführte, was er da alles thematisch und formal noch vorhatte, staunte ich nicht nur ob des Umfangs, sondern auch über die geradezu experimentelle Kühnheit der Texte, an denen er arbeitete, von Gedichten und Erzählungen bis zu den irritierendsten Prosa-Mixturen und Zitat-Verwirrspielen.
Das ist ja vielleicht eines der merkwürdigsten Kennzeichen seiner Entwicklung als angeblich ‚populärer’ Autor oder gar ‚nur’ populärer Autor: Er begann, als er 1956 aus dem Zuchthaus Bautzen und der DDR herauskam, mit epigonaler Prosa in der Art der fünfziger Jahre, die er dann selbst verwarf, schrieb den atemberaubend wuchtigen und doch untertreibenden Gefängnis-Bericht „Im Block“ (1969) und schien sich danach in einem verzweigten, aber geradezu unterhaltsamen Familien-Romanwerk mehr oder weniger behaglich einzurichten.
Aber schon seine insgesamt sechsbändige „Deutsche Chronik“ war recht gelesen viel ungemütlich-böser, als die meisten Leser und Rezensenten wahrhaben wollten, von „Aus großer Zeit“ bis „Herzlich willkommen“; die fast fatal erfolgreichen Fechnerschen Fernseh-Verfilmungen von „Ein Kapitel für sich“ und „Tadellöser & Wolff“ verdeckten das Unheimliche noch mehr. Dann aber nahm Walter Kempowski einen neuen Anlauf, den er seinen staunenden Lesern ab 1993 präsentierte und 2005 abschloss.
„Das Echolot“ ist eine Chronik neuer Art, sozusagen der Roman des Zweiten Weltkriegs – aber die zehn Bände enthalten (außer einem Vorwort von einer Seite von ihm) keine einzige Zeile von Kempowski selbst: Das Ganze bestand aus Zitaten und Zitatsplittern, aus „Material“, aus Aufzeichnungen und Dokumenten der Zeitgenossen; es war eine riesige Collage oder Montage, wie man will, chronologisch geordnet vom Sommer 1941 bis zum Mai 1945 – und dennoch, durch diese wahrhaft epische, das Material in Bewegung setzende Sequenzierung und Anordnung der Texte war dies eine künstlerische Leistung, war Kempowski dennoch der „Autor“ im emphatischsten Sinne, und er war auch damit erfolgreich, entgegen der eigenen Erwartung und der des Verlages.
Es war eine Art von Werk, wie es sich in seinen kühnsten Momenten Walter Benjamin ausgedacht hatte für seine große Untersuchung „Pariser Passagen“, die – so träumte er in den dreißiger Jahren – nur aus Zitaten bestehen würde, aus denen die ‚Bedeutung’ gewissermaßen hervorspringen sollte. So auch bei Kempowski, dem keiner solche Radikalität zugetraut hätte: Er wollte ganz hinter dem Werk zurücktreten und hinter den Stimmen derer, die er – gewissermaßen als Chorleiter – zitieren, zur Sprache kommen lassen, dirigieren wollte.
Hybris und Demut
Das war die Demut Walter Kempowskis, das Gegenstück zu seinem großen Ehrgeiz, auch seinem grenzenlosen Getriebensein und seiner oft frechen, unendlich witzigen und boshaften Eigenbrötelei, die ihren schönsten Ausdruck fand in seinen Tagebüchern. Von denen sind nur drei fertig geworden, „Alkor“, „Sirius“ und „Hamit“ (und das Fragment eines vierten, welches die Aufzeichnungen zum Jahr 2001 enthält).
Dabei hatte er diese Serie von Tagebüchern zur dritten „Säule“ seines Werks machen wollen; das Material und die Souveränität, spitzzüngig und melancholisch und sich selbst verstörend-boshaft verspottend die Notizen anzuordnen, hatte er, der ja Anlagen zum Clown wie zum Kirchenmusiker, zum kleinen Sadisten wie zum warmherzigen Pädagogen hatte. Und nicht zu vergessen: auch seine Tagebücher zeigen seine Qualitäten als ein Entertainer, der sich nie so penetrant gravitätische Würde anmaßt wie Thomas Mann, dem er bewundernd wie auch leise spöttisch gegenüber stand. Natürlich sind auch Kempowskis Tagebücher Selbstinszenierungen, aber er ist eben jederzeit bereit, sich selbst kurz und elegant in die Kniekehle zu treten und sich so auf Menschenmaß zu reduzieren oder gar auf die Knie zu zwingen.
Geprägt – man kann auch sagen: schöpferisch deformiert – wurde Walter Kempowski vor allem durch den Zerfall seiner Rostocker Familie im und nach dem Zweiten Weltkrieg und davon, dass ihm die blödsinnige Bestrafung durch die Sowjets zu 8 Jahren Gefängnis 1948 wegen „Spionage“ den Verlust der entscheidenden Jahre von Bildung und Realitätskontakt einbrachte. Zugleich schrieb er in einer ihn ewig peinigenden Weise sich selbst einen Teil der Schuld an dieser Familienkatastrophe zu; das trug ihm eine seelische Gebrochenheit ein, die zugleich der stärkste Antrieb dafür war, etwas gutzumachen, etwas zu zeigen, der Welt doch durch Erfolg seine Nützlichkeit zu beweisen.
Hybris und zugleich Demut stecken im Innersten seines Werkes, und wenn – gerade auch bei den Journalisten der siebziger und achtziger Jahre – die Art, wie man ihn oft als „Reaktionär“ behandelte, weil er an der DDR kein gutes Haar ließ, wirklich von blindem Ressentiment zeugte, so nahm er solche Fehleinschätzungen als extrem verletzend wahr, bis in die letzten Jahre, da er sich Freude an seinem Erfolg und daran, dass er mit seiner Einschätzung der DDR Recht behalten hatte, hätte souverän leisten können. Aber sein Narzissmus war gewissermaßen unheilbar gekränkt.
Kempowski bewirtschaftete erfolgreich seine eigenen Deformationen, aber von Anfang an stellte er sich eben untrennbar davon den deutschen nationalen Deformationen, der Selbstentstellung Deutschlands und vor allem des deutschen Bürgertums durch das Dritte Reich, welches wahrscheinlich unseren Selbstrespekt noch viel tiefer zerstört hat, als wir sogar bis heute ahnen. Aber es gehört zur Größe von Kempowskis Werk, dass es von persönlichen wie nationalen Schuldverstrickungen nicht wegblickt, sondern sie auf sich nimmt, sie reflektiert, sie als eingesenkt in unserer aller Leben versteht und konstruktiv umsetzt.
Bei Alexander Kluge heißt es einmal über die erfundene Geschichtslehrerin Gabi Teichert: „Sie nimmt Anteil an allen Toten des Reiches.“ Der Satz passt auf Walter Kempowski: Er nahm Anteil an allen Toten des Reiches, ein Satz, in dem sich spöttische Übertreibung und tiefe – wenn man so will: patriotische – Trauer mischen. Wie heißt es in dem kurzen Vorwort zum ersten Band von „Das Echolot“:
„An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: ‚Das sind ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.’ Ich begriff in diesem Augenblick, daß aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne daß ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mir bewußt, daß ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling und zwar für knappe zwei Minuten.“ Dies ist die einzigartige ‚Zündung’ des Genius, der einer großen Aufgabe gewahr wird, und zugleich spürte er immer den Schatten, der durch die Taten der Nazis über unserem Volk lag.
Eine unvergessliche Melodie
Der „babylonische Chorus“ deutscher Geschichte, das ist es, was Kempowski eingefangen hat – auch in seinem unvergleichlichen Archiv deutscher Lebensgeschichten, das er in seinem Haus in Nartum einrichtete. Und zugleich ist da diese eine Stimme, diese schmale, eher bedächtige, die eigenen Einfälle und Witze zart und schmunzelnd genießende Stimme, die viele Leser als Hörer Kempowskis, des unermüdlichen Lesers aus seinen Büchern kennen.
Hätte ich zwei seiner Bücher „für Anfänger“ zu empfehlen, ich würde den melancholischen Abgesang des Romans „Letzte Grüße“ von 2003 nennen und dann noch das kleine, wenig beachtete Buch „Weltschmerz“. Lebensgeschichtlich der Auftakt der Existenz des Dichters Walter Kempowski, von Kindheit und Jugend erzählend. Darin wird berichtet von einem Musikautomaten, der „eine kleine unvergeßliche Melodie spielt, den man aber doch eines Tages zumachen und zuschließen“ werde müssen, „ein für allemal“. Das ist jetzt geschehen. Freuen aber können wir uns auf jene drei Werke, welche er den Monaten vor seinem Tod noch abgetrotzt hat, einen Band mit Gedichten und einen mit Prosa und einen weiteren Band seines Tagebuchs.
Jörg Drews: Eigenbrötler, Chorleiter, Clown. Nachruf auf Walter Kempowski. Zitiert nach der Online-Ausgabe https://www.sueddeutsche.de/kultur/nachruf-auf-walter-kempowski-eigenbroetler-chorleiter-clown-1.889245
Druckfassung unter dem Titel „Er nahm Anteil an allen Toten des Reiches“. In: SZ, 6./7.10.2007.