Jörg Drews: In Böen wechselt mein Sinn. Magische Blätter, himmelhoch aufgewirbelt: Zum 80. Geburtstag der Dichterin Friederike Mayröcker
Zuerst saßen wir da und hörten hingerissen zu und staunten, warum diese Autorin ihre Sachen so merkwürdig schleppend und monoton-zart vorlas, und es dauerte lange, bis sowohl Friederike Mayröckers Dichterkollegen als auch die Kritiker über dieses „Ich versteh’ nichts, aber es gefällt mir sehr“ hinauskamen. Bis in die späten siebziger Jahre scheiterten wir daran, dass Frau Mayröckers Texte weder lyrisch noch episch konventionell noch in der Art experimentell-konstruktiv waren, die wir erwarteten. Dass Gedichte wie Prosa einerseits geradezu haltlos assoziativ und zugleich untergründig streng und obendrein ganz affektbetont verlaufen könnten, war in unserem damaligen poetischen Weltbild nicht vorgesehen; sie setzte dichterisch ganz anders an, war im Abseits und hatte einen Vorsprung, und wir mussten sie erst einholen und ihr Werk mit anderen, genaueren Beschreibungen und Zuschreibungen in Verbindung bringen als nur Begriffen wie „Dada“, „Surrealismus“, das „Wunderbare“ oder – wie es im damaligen akademischen Jargon lautete – „weibliches Schreiben“.
Schmetterlinge aus Papier
Seit 2001 liegen bei Suhrkamp die fünf Bände „Gesammelte Prosa 1949-2001“ vor und dazu ein Band mit den über die Jahre zu wechselnden Gelegenheiten entstandenen Kurzprosastücken (zu Bildern, Plastiken, Geburtstagen und als Vorlage zu akustischen Realisationen), genannt „Magische Blätter“. Nun ist zu ihrem 80. Geburtstag ein 850 Seiten starker Band mit allen ihren Gedichten (samt hundert bisher kaum oder nur versteckt publizierten) erschienen, (Gesammelte Gedichte 1939-2003. Herausgegeben von Marcel Beyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 600 Seiten, 26,80 Euro) und die monoman und abgesondert wie eine Hieronyma im Gehäus Schreibende, nach dem Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl einsamer denn je lebende Autorin sieht nun doch auf ein Werk, das ihr manchmal so flüchtig wie aus „Schmetterlingen“ und „Schneeflocken“ bestehend erscheint – aber das sind Metaphern für Wörter oder Worte, und das bestechend Exzentrische dieser Texte fasziniert immer mehr Kritiker und Leser, und die Verehrung für die Eremitin von Wien steigt immer noch.
Das hat, denke ich, auch damit zu tun, dass seit Mitte der siebziger Jahre in ihre Bücher, vor allem in ihre „Längeren Prosaarbeiten“ – wie sie, das Wort Roman vermeidend, gerne sagt – ein existenzielles Element eingewandert ist oder von ihr zugelassen wurde; wohlgemerkt: ein existenzielles, nicht zu verwechseln mit „Autobiographischem“, obwohl auch dies erkennbar zugenommen hat. In dem Buch „Die Abschiede“ von 1980 war dies erstmals erkennbar, und die Zahl der Kritiker ist nicht gering, die an diesem Buch, das eine ganz neue Entwicklung in Friederike Mayröckers Werk eröffnete, kläglich gescheitert sind oder gar nichts hierzu aufs Blatt brachten.
Heute kann man in „Die Abschiede“ eine ganz einmalige Koinzidenz von „Inhaltlichem“ – Abschiede aller Art in einem Leben, schmerzhaft Gelebtes – und mehrschichtigem, abstraktem Erzählverfahren erblicken. Dass dies eines der bedeutendsten Bücher der frühen achtziger Jahre ist, lässt sich inzwischen gut sehen, wo das, was uns damals gesinnungsästhetisch angeboten und aufgedrängt wurde, klanglos in den Orkus hinabgefahren ist. Dies Element des ahnbar Lebensgeschichtlichen ist bis zu „brütt oder Die seufzenden Gärten“ (1998) stark geblieben und bedeutete in den letzten Jahren, dass auf eine entschlossene und rührende Weise die Existenz der Schreibenden als einer nur noch Schreibenden der „Inhalt“ der Texte ist, aber eben nicht als Autobiografie, sondern jeweils durchsichtig gemacht, angereichert, übersponnen von Lebenserfahrungen anderer Künstlerexistenzen, zu denen die Schreibende sich hingezogen fühlt, mit denen sie redet, schreibt, denen sie – zum Beispiel Musikern von Schubert bis Chopin – mit neuartigen kleinen Vignetten und biografischen Skizzen, montiert aus allerlei Zeugnissen, huldigt. Etwa in dem schmalen, in der Vorsicht der Annäherung wahrhaft „fragilen“ Band „Heiligenanstalt“ von 1978, dessen Titel zwischen Beethovens „Heiligenstädter Testament“ und der Irrenanstalt als Fluchtpunkt von Künstler-Heiligen-Existenzen changiert.
Friederike Mayröcker ist aber nicht einfach zum Epischen zurückgekehrt, denn ihre Prosabücher von „Lection“ oder „Stilleben“ bis „brütt“ treten gewissermaßen zitternd auf der Stelle, sind mehr Zustandsbeschreibungen als dass sie eine Handlung hätten; sie vibrieren, sie fuchteln, die Sprechende bespöttelt ihre Scribblemania, ihre Schreibängste: „Ich arbeite im Angstfach“ – nämlich der Angst, dass ihr nichts mehr einfallen könnte, wo sie doch ohnehin schon vom Auflesen von allerlei sprachlich anderswo Deponiertem und Weggeworfenem lebt, sozusagen als eine „bagwoman“, als manisch-armselige Abfallsammlerin.
Doch das verhuscht Assoziative ist wohl weniger kreativitätspsychologisch als vielmehr verfahrenstechnisch und als poetologische Haltung gemeint. Ein barsch eindeutig und eigensinnig gemeinter Text hat die Tendenz, dem Autor unter der Hand zu zerfallen; also lieber mit sanfter Zielstrebigkeit das Disparate eingestehen und dann doch jene Balance erreichen zwischen Dispersion und Konzentration, welche die Texte Friederike Mayröckers in den letzten Jahren so schwebend und nicht-autoritär erscheinen lässt, wie „lauter schöne und blaue Manöver“, zaudernd drängend, zielstrebig konfus, zart dynamisch – und an viel mehr Stellen, als bisher einer erwähnt hat, komisch, selbstironisch, spöttelnd, die Posen der Dichterinnenexistenz leise auf den Arm nehmend und mit dem Eingeständnis, alleweil auf der Wortjagd und dem Zitatraubzug zu sein, kaum mehr „leibhaftig“, sondern eher „schreibhaftig“ zu existieren und die eigenen Texte selbstkritisch „bloß zusammengestückelt aus Fremdteilen“ zu sehen.
Oder aber, offensiv gewendet gegen alle, die verwundert sind über die ungewohnten und schwierigen Arten der Mayröckerschen Texte und in berechtigter Abwehr dessen, was sich ja doch immer noch oder vielleicht in letzter Zeit wieder stärker meldet als die ‚natürliche‘ Vorherrschaft eines mittelintelligenten psychologischen Realismus: „Man kann gar nicht realistisch = verrückt genug schreiben.“ Ja, mit „verrückten“ Schreibweisen fängt man mehr von der Realität ein als mit den marktgängig vernünftigen, und so gesehen gehören Friederike Mayröcker und Ernst Jandl und Paul Wühr und sogar Alexander Kluge enger zusammen, als sie es selbst wissen.
Friederike Mayröcker ist keine Theoretikerin, aber nicht bloß in dem frühen Text „Dada“ aus dem Jahre 1975, sondern bis in ihre letzten Werke hinein, etwa dem erheiternden und verstörenden Quadrolog „das zu Sehende, das zu Hörende“ von 1997 wird das Nachdenken über die Poetik des eigenen Schreibens ganz unauffällig fortgesetzt und angeschlossen an eine moderne ästhetische Reflexion, ja, an eine – obwohl Friederike Mayröcker, wie gesagt, weiß Gott keine Theoretikerin ist – Theorie dessen, was in einem emphatischen Sinn ‚zeitgenössisch‘ sein könnte in der Literatur und nicht nur konsumierbar, abgeschlafft und gebildet.
Bildlegenden fürs Puppentheater
Wir reden über Prosa und Lyrik von Friederike Mayröcker – und wo bleiben die Theatervorschläge und Hörspiele? Was ist mit denen anzufangen? Antwort:
Viel suggestive Texte – teils in den „Magischen Blättern“, teils in den Bänden der Prosa-Edition – sind nicht nur Texte. Sie sind mögliche Partituren für bisher ungekannte theatralische und akustische Realisationen – welche abenteuerlustige Marionettenbühne spielt uns einmal die „Bildlegende zu einem absurden Puppentheater“, und welches Werkraumtheater inszeniert uns die „Versatzstücke oder: So hat dieser Tag doch noch einen Sinn gehabt!“?
Was uns des weiteren fehlt, ist eine Ausgabe aller Texte Friederike Mayröckers zu Hörspielen samt – es lebe die sich auf Rundfunkarchive stützende CD! – vorhandener Aufnahmen von bereits realisierten Hörspielen! Und da Hörbuch und Hördokumentation derzeit so auf dem Vormarsch sind: Wie wäre es mit einer Versammlung aller Aufnahmen von Lesungen Friederike Mayröckers, in denen wir ihre Annäherung an die eigenen Texte erfahren/erhören könnten? Wir haben hier ein Werk, das kompromisslos und demütig, kühn und dankbar die Gunst eines inspirierten Moments immer und immer wieder umfleht und umwirbt und dies am Ende den „Heiligen Geist“ nennt, der darüber wachen möge, dass etwas Haltbares herauskomme für diejenige, die ein Spiel ist von jedem Druck der Luft, oder, anders ausgedrückt: „In Böen wechselt mein Sinn“. Das sagt Friederike Mayröcker stolz und selbstkritisch, selbstspöttisch, sie, die unsere Glücksmöglichkeiten so sehr vermehrt, aber auch unser Arsenal von Melancholien so sehr bereichert hat. Salut zu ihrem 80. Geburtstag!
Jörg Drews: In Böen wechselt mein Sinn. Magische Blätter, himmelhoch aufgewirbelt: Zum 80. Geburtstag der Dichterin Friederike Mayröcker. In: Süddeutsche Zeitung, 20.12.2004