Jörg Drews: Aberwitz hoch 2. Laudatio auf Christoph Schlingensief. Zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für „Rosebud“
Manchmal ist es schwierig, keine Satire zu schreiben, aber bisweilen auch, das Genre der literarisch-politischen Satire überhaupt noch zu realisieren. Wenn Moral, ohne die die Satire nicht auskommt, altmodisch erscheint und obendrein das Genre der Satire zum Kabarett ausgeleiert wirkt und selbst scheinbar wohlfeil ist, jachert die Satire schwächlich hinter der zu satirisierenden Wirklichkeit her: Alle Möglichkeiten der Kritik scheinen selbst schon wieder Teil des zu attackierenden Systems, alle Möglichkeiten zu reagieren sind ihrerseits kanalisiert, ja sogar öffentlich willkommen geheißen und der „Scheibenwischer“ läuft leer. Es gehört zu den Leistungen Christoph Schlingensiefs, nicht nachzulassen in den vielfältigen Bemühungen, das Erwartbare zu umgehen oder zu übertrumpfen, Formen des Reagierens gefunden zu haben, die ihrerseits nicht erwartbar waren und damit nicht zuletzt auch gezeigt haben, daß das Universum der Formen – auch der medialen, performativen, literarischen und filmischen Formen – noch keineswegs geschlossen ist.
Auch bei Christoph Schlingensiefs von der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden für das Jahr 2002 ausgezeichnetem Hörspiel „rosebud“ steht die Frage nach der Möglichkeit von Kritik und Satire, die Möglichkeit dessen, was früher „Ideologiekritik“ geheißen hätte, im Hintergrund und ist künstlerisch virulent: Wie ist Kritik zu inszenieren, wie sind Handlungen zu erfinden, wie sind Stimmen zu führen, wie ist das Tempo anzulegen, wie ist das Verhältnis zwischen erfundener und zitierter Sprache anzulegen, damit nicht schwächliches Nörgeln, sondern schneidendes (und zugleich wild amüsiertes) Nicht-Einverstandensein hörbar wird? Von woher und wie inszeniert man Kritik, wenn das Unternehmen der klassischen Ideologiekritik selbst wieder ideologisch und ‚corny‘ wirkt und desavouiert scheint und dabei – man sehe sich die gesellschaftliche und mediale Wirklichkeit an – so aktuell ist wie eh und je, jedenfalls so erforderlich ist wie immer? Die Manipulation unserer Weltwahrnehmung ist ja schließlich nicht vor kurzem eingestellt worden, der Wunsch, unsere Wahrnehmung in eine genehme Richtung zu lenken, ja nicht geläutert und gutherzig aufgegeben worden; man möchte uns höchstens glauben machen, es sei alles anders geworden, Ideologiekritik greife nicht mehr und alle Kategorien wie ein ästhetisches Oben und Unten, ein politisches Rechts und Links seien nur noch unsinnig. Christoph Schlingensiefs Arbeit – und uns in der Jury hat hier natürlich vor allem seine Hörspielarbeit interessiert – ist eine Reaktion auf die neue Herausforderung, sich im Politischen wie im Ästhetischen kein hübsch designtes X aller Art für ein häßliches U vormachen zu lassen.
Schlingensiefs Arbeit verstehen wir als Antwort auf die Herausforderung, mit einem neuen Scharfsinn mit Kommunikations- und Darbietungssituationen künstlerisch umzugehen und inszenatorisch darauf in Weisen zu reagieren, die in den bisherigen medialen Gattungen nicht ‚vorgesehen‘ waren. In der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden haben uns natürlich aus dem Spektrum der Schlingensiefschen Arbeiten vor allem die Hörspiele „Rocky Dutschke ‚68“ und „Lager ohne Grenzen“ in den Sitzungen von 1998 und 2000 intensiv interessiert, und nun prämiiert die Jury das Hörspiel „rosebud“ als ein Hörspiel, welches aus der kritischen und ästhetischen Not, aus der gegenwärtigen Politik- und Medienszenerie einen satirischen Funken zu schlagen, die Tugend eines losgelassenen und schrillen Hörspiels macht. Schlingensiefs Konsequenz besteht darin, den Aberwitz der von uns allen nur noch als inszenierte Politik wahrgenommenen Politik einen Aberwitz hoch 2 entgegenzustellen, diesen Aberwitz aber eben nicht in Besserwisserei enden zu lassen. Schlingensief sieht, daß der mit billigsten, oft marktschreierischen Zutaten in Formulierung und Aufmachung operierenden Publizistik nur mit einer Übertreibung ihrer selbst beizukommen ist. Der hysterischen Sensationsmacherei und Geschmacklosigkeit der Konzernstrategen, ob sie nun die „Bunte“ oder „Bild“ zu verantworten haben, kann man nur noch mit der Übertreibung eben dieser geschmacklosen Ingredienzien beikommen, im Hörspiel also mit der übertrumpfenden ‚Geschmacklosigkeit’ im Akustischen.
Willkommen also bei einem „kryptischen Hörspiel“, das noch nicht einmal seine satirische Intention formuliert, sondern so direkt großmaulig daherkommt, daß die Geschichte eines Großverlegers und die der Berliner Republik und die des deutschen Theaters gleich in eins genommen und mit dem Coup der Gründung einer „Zeitung am Sonntag gegen Terror und Anarchie“ ‚getoppt‘ werden, wie man nach heutigem Jargon sagen würde. Wir haben also reinste Kolportage vor uns bzw. vor Ohren. Das Mißverständnis ist naheliegend, dies Hörspiel als eine Politparabel zu verstehen, wobei die billige Schrillheit gewissermaßen karikierend angesiedelt wäre im Dreieck zwischen Mediensprache, Politikinszenierung und der Aufgeblasenheit und Gespreiztheit des Mediums Theater, das wenn es – wie meist – konventionell gehandhabt wird, die höchsten Subventionen kassiert und dennoch oft nur die Probleme von heute mit der Ästhetik von vorgestern für ein Publikum von gestern vorführt. Aber das Gleichnis geht nicht auf, sonst wäre das Ganze ja interpretatorisch glatt ‚tröstlich‘.
Unterm genauen mehrfachen Zuhören ‚zerfällt‘ übrigens gewissermaßen der Text des Hörspiels in einzelne Sätze, die gar nicht im originalschöpferischen Sinne ‚authentisch’ sind, sondern fast alle der Sphäre von politisch-medialer Öffentlichkeit entstammen, also selbst klischiert sind, zum Teil halbredensartlich, kurzfristig und zeitweise berühmt, von uns allen mit meckerndem Hohn begrüßt und quittiert wie jenes ominöse barsche und fettige „Fakten, Fakten, Fakten“, die verzweifelt blöde und dabei schwitzend sich sachkompetent stellende Forderung eines Chefredakteurs an seine Diener und Zuträger.
Zentral schwierig ist dabei überhaupt die künstlerische Darstellbarkeit dessen, was das öffentliche oder das sogenannte öffentliche Leben unserer Republik zusammenhält, das sich abspielt – oder sich abzuspielen uns partiell vorgemacht wird – zwischen Bundeskanzleramt, Parlament und Redaktionen und im Hörspiel an einem imaginären Ort zusammengefaßt wird, der gar nicht lokalisierbar ist, aber auch nicht lokalisierbar sein muß: alles geschieht an einer abstrakten, konstruierbaren Stelle, dem Treffpunkt von Vektoren. Vielleicht der wichtigste diagnostische Satz des Hörspiels lautet: „Bleiben Sie unten, wir kommen ’runter.“ Was obendrein das ironische Eingeständnis enthält und dem Vorwurf die Spitze abbricht, nicht ‚auf der Höhe der politischen Probleme‘ zu sein. Weil in den Medien und der Politik dem Niveau – um den altmodischen Ausdruck mal zu wählen – dem Niveau keine Chance gelassen wird, sieht die Darstellung der Fälle Fischer (vor einiger Zeit), Friedmann und Kirch so aus, wie sie z.T. aussah – was wir da vorgespiegelt/gespiegelt kriegten, ähnelte doch oft sehr der rasenden Kolportage in Schlingensiefs Hörspiel, so sehr, daß man sich schon überlegen kann, ob nicht die Wirklichkeit selbst sich inzwischen der trash-Ästhetik angepaßt hat … und wenn auch nicht: offenbar muß man, um sie kenntlich zu machen, sie mit den Mitteln einer trash-ästhetischen Kunst geknackt, zur Kenntlichkeit verzerrt werden. Hierin ist Schlingensiefs Hörspiel der Nachfahre jener Präsentation von Politik, wie sie einst Pardon und Titanic betrieben, bei deren Lektüre man ja auch oft den Eindruck hat, daß dies durchaus die adäquate Wiedergabe von politischen Verfahren und der Szenen hinter der Szene ist. Den Handlungsfaden kann man dabei dann fast getrost verlieren: Die Wahrheit über die ‚Normalität‘ steckt in der Groteske, und die lustigprophetischen Elemente, die billig oder real apokalyptischen sind auch schon einkomponiert: „Kommen Sie nach Berlin, wo man heute schon sieht, wie es in fünf, sechs Jahren überall aussehen wird“ – ich bin mir gar nicht sicher, ob das so sehr katastrophisch und apokalyptisch warnend gemeint ist oder selbst nicht doch schon wieder die Parodie düsterer Prophezeiungen zur Zukunft unserer Republik darstellt.
So überzeugt die Jury in ihrer Entscheidung für Christoph Schlingensiefs Hörspiel als einer innovativen, mit grimmigem Spaß zu quittierenden Leistung auf dem Gebiet des neuen Hörspiels ist – anläßlich seiner Preiskrönung möchte ich auf eine Entwicklung bei der Gattung Hörspiel aufmerksam machen, welcher die Jury und die Träger des Preises vielleicht werden Rechnung tragen müssen. Es ist angemerkt worden, daß der Begriff des „Original-Hörspiels“ uneindeutig sei, jener Begriff, der in der Formulierung unseres § 1 der Statuten steckt: Der Hörspielpreis der Kriegsblinden werde jährlich vergeben „für ein von einem deutschsprachigen Sender konzipiertes und produziertes Original-Hörspiel, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform (Hörspiel) realisiert und erweitert.“ Die Hörspieljury hatte nun, wie Sie sehen, keinerlei Schwierigkeiten damit bei Schlingensiefs Hörspiel, doch Schwierigkeiten scheinen aufzutauchen, wenn ein Text auch oder gar sogar zeitlich zuerst in einem anderen Medium realisiert wird oder wurde, und das – so eine kritische Überlegung zur Frage „Original-Hörspiel“ – ist auch bei „rosebud“ der Fall gewesen. Es ist aber ein zu konstatierendes Faktum, daß immer wieder – und wohl immer zunehmend – Autoren einen Text schreiben, den sie so anlegen, daß er von vornherein in verschiedenen Medien durchaus adäquat und spezifisch realisiert werden kann. Dies war und ist nicht nur bei „rosebud“ der Fall, das Anfang 2002 auch an der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde, sondern auch schon bei einem anderen mit dem Hörspielpreis ausgezeichneten Stück und Autor. Des Berliner Theater- und Hörspielautors Werner Fritschs „Sense“ war ein Prosamonolog, bei Suhrkamp veröffentlicht als Buch, und wurde kurz nach Erscheinen als Hörspiel gesendet, dessen Faszination durch Text und Stimme so stark war, daß es für uns in der Jury ein so ausgezeichnetes Hörerlebnis wurde und nicht nur aus einem literarischen Text sekundär abgeleitet, so sehr, daß wir dies Stück vor einigen Jahren preiskrönten. Wir halten dafür, daß dies etwas anderes ist als eine „Bearbeitung“, welches zwar selbst wieder ein Begriff ist, der noch undeutlicher sein mag als „Original-Hörspiel“, aber doch einer, der eine einigermaßen eindeutige Handhabung durch die Jury erlaubt. Wird ein Roman gekürzt, auf Stimmen verteilt, mit Geräuschen angereichert, so kann das gut zu hören, intelligent und sensibel gemacht sein, ist aber sicher kein „Original-Hörspiel“. Öffneten wir unsere Statuten in diesem Sinne, so wäre abzusehen, daß wir sehr wahrscheinlich mit Bearbeitungen überschwemmt würden und dann eher der Jury eines Hörbuchpreises ähneln würden als der unseres Hörspielpreises. Und das wollen wir definitiv nicht. Wünschenswert sind für Hörspielredaktionen und vor allem für uns als Jury natürlich „Original-Hörspiele“ in dem Sinne, daß ihnen ein speziell für die Realisation als Hörspiel angelegter Text zugrunde liegt, der nicht nur auf eine Hörspiel-Realisation schielt. Was, wie gesagt, wenn Sender und Jury immer mehr ‚Bearbeitungen‘ bekommen? Das würde uns bald in eine Lage zwingen, wo wir Regisseure, Bearbeiter und eventuell sogar Sprecher als Preisträger nominieren müßten, denn auch an der schauspielerisch-sprecherischen Realisation kann ja Entscheidendes hängen für ein Hörspiel, wie wir alle wissen. Wir werden uns also eventuell eine Präzisierung unserer Statuten überlegen müssen, doch es liegt im Wesen der Kunst – um einmal hoch zu greifen –, daß sie Unerwartetes präsentiert, das nicht einhundertprozentig in vorgefaßte Kategorien von Statuten paßt, weder in solche, die die Art des benutzten Materials betreffen (Sprache, Zitate, Musik, Geräusch …) noch solche der Produktionsvoraussetzungen oder Datierungen, was da zuerst war, Theateraufführung oder Hörspiel.
Eins ist sicher: 1) pure Bearbeitungen vorhandener Texte werden wir auch in Zukunft nicht prämiieren wollen, denn 2) wir sind und bleiben ein Autorenpreis; 3) aber behalten wir uns das Recht vor, ein eingereichtes Stück als nureine ‚Bearbeitung‘ zu erkennen und als Hörspiel in diesem Sinne nicht anzuerkennen. Was anderes ist es, wenn ein Autor selbst eine eigene Hervorbringung auf eine überzeugende und strukturelle neue Art zum Hörspiel überarbeitet bzw. bestimmte radiophone Qualitäten daran herausarbeitet.
Dies als Nebenbemerkung aus aktuellem Anlaß und zur Klärung. Heute aber freuen wir uns über Christoph Schlingensiefs Hörspiel „rosebud“, das uns eine Schwierigkeit ganz bestimmt nicht bereitet hat. Es gehört nämlich nicht zu den angenehmsten Seiten des Hörspiel-Jurierens, sich bisweilen auch Hörspiele anhören zu müssen, bei denen jeder einzelne Satz und jedes inszenatorische Manöver ganz erwartbar ist, eingängig und hoffnungslos verständlich arrangiert oder gesprochen. Gottseidank bringen es auch die Stimmen in Schlingensiefs Hörspiel fertig, jedes Mal unkalkulabel und unerwartbar zu sprechen, natürlich mit der Zugabe einer nervenden Outriertheit. Zu bewundern ist aufs intensivste, wie ein Künstler sogar noch das Klischee, er sei ein „enfant terrible“, durch eine nicht vorhersehbare Wendung – man kann auch grinsend sagen: einen neuen sog. ‚Skandal‘ ausmanövriert. Unverdrossen geht Schlingensief gegen die verblödende Glätte von Ritualen aller Art an und findet und erfindet immer neue Arten von „trash“, und das ist in einer vor allem mit der Produktion von Verpackungsmüll und akustischem Müll und terminologischem Müll beschäftigten Welt eine verdammte Sisyphus-Arbeit. Schlingensief ist inzwischen vielleicht der einzige Autor der Bundesrepublik, der als Performer und Aktionist, als Regisseur und als Hörspielmacher in der Nachfolge des Konzepts der „operativen“, der „eingreifenden“ Literatur arbeitet – wobei das Wort Literatur natürlich zu eng ist. Er stürzt sich programmatisch in das Chaos und die durch kein Design zu verdeckende Häßlichkeit der Welt der Gegenwart und entdeckt die Häßlichkeit oft just da, wo die Welt schön und soigniert zu sein glaubt. Das Kreischen und das Gebrüll seiner Sprache und seiner Stimmen, das Nervende und einem arg auf die Pelle Rückende – das ist die kreischende Wahrheit über die Welt, in der „Realismus“ eher so was wie ein altväterlicher Literaturstil des 19. Jahrhunderts ist als ein geeignetes Mittel, mehr als nur die Fassade der Verhältnisse zu reproduzieren. Wenn in Kunstwerken der Wahnwitz Kobolz schlägt, hat die Wahrheit vielleicht eine marginale Chance. Und dann wird uns natürlich bald sehr interessieren, welches Licht Christoph Schlingensief dem „Parzival“ in Bayreuth aufsetzen wird. Heute aber: Unseren Glückwunsch! Er hat schon vor einigen Jahren eine seiner Figuren den Wunsch danach äußern lassen, den Hörspielpreis der Kriegsblinden zu bekommen. Le voilà!
Berlin, 7.7.2003
Jörg Drews: Aberwitz hoch 2. Hörspielpreis: Laudatio auf Christoph Schlingensief. In: epd medien 54, 12 Juli 2003. Frankfurt/M: Evangelischer Pressedienst 2003, S. 10–13.