Jörg Drews: Laudatio auf Gerhard Rühm zum Alice-Salomon-Poetik-Preis 2007
Meine Damen und Herren,
lieber Gerhard Rühm,
in letzter Zeit ist wieder viel die Rede vom Jahr 1968 und seinen „Aufbrüchen“, ziemlich überflüssigerweise, aber jedenfalls fehlt mir dabei immer die Erwähnung, daß vor allem auch Du es warst, den ich im Januar 1968 zum ersten Mal habe ausrufen hören: „Auf zu neuen Ufern!“ Genau so fühlten wir uns damals, vielleicht sogar weniger aus politischen Gründen oder einem festen politischen Glauben, als vielmehr in der Zuversicht, daß es mit der Literatur, die wir favorisierten, aufwärts gehen und daß sie immer größere Verbreitung und Begeisterung finden würde. Du stecktest wie immer und immer noch voller Ideen und Konzepte, was Du noch alles realisieren wolltest, und ich geriet in jenen Jahren immer tiefer in die vor allem Wiener Literatur hinein, deren Berliner Exponent Du, zusammen mit Ossi Wiener, damals warst. Dazu gehörte, daß ich Dich auch gleich intensiv kennenlernte als Herausgeber, Archivar und nicht zuletzt als beginnender Geschichtsschreiber und Nachlaßpfleger der „Wiener Gruppe“ – der aufregende und so wichtige „Gruppen“-Band war ja gerade bei Rowohlt erschienen – , und als Herausgeber des Werks von Konrad Bayer, dessen Edition Dich ja so lange beschäftigte. Diesen Teil Deiner Arbeit möchte ich gleich am Anfang erwähnen, da der Poetikpreis der Alice Salomon Hochschule ja ausdrücklich sagt, daß damit vor allem auch das „kulturelle Engagement eines Literaten“ ausgezeichnet werden sollte – was ja wohl identisch ist mit dem Werk eines Dichters, und da diese wichtige Seite Deiner Arbeit selten erwähnt wird. Ein Stück Wiederentdeckung der Barockpoesie verdankten wir damals Dir; aus Deinem Munde vernahm ich erstmals einen begeisterten Preis der Gedichte von Quirinus Kuhlmann, die von Dir inspirierte Edition von zwei Büchern Walter Serners bei Renate Gerhardt machte uns erstmals mit dieser bedeutenden Gestalt bekannt, und August Stramm schaut mit Sicherheit mit großem Gefallen auch jetzt auf Dich herab, der Du 1974 in London, auf einer der schönsten Konferenzen, die ich erlebt habe, uns alle so mit Deiner Begeisterungsfähigkeit allgemein und für Stramm im besonderen entflammt hast. Und schließlich: Du warst es, der den von uns allen tot geglaubten Franz Richard Behrens wieder aufgespürt hat und eine zweibändige Ausgabe seiner Werke auf den Weg brachte.
Die Gefälligkeit einer „Literatur light“, die inzwischen den Markt überschwemmt und mit einer geradezu bizarren Ernsthaftigkeit sogar von Kritikern diskutiert und preisgekrönt wird, war Dir immer indiskutabel. Paradoxerweise standest Du immer auf der Seite einer Literatur und einer literarischen Produktion, die einen emphatischen Kunst- und Literaturbegriff nicht aufgab und Poesie immer verknüpft sah mit Erkenntnis und Innovation in dem Sinn, daß die leere Fortschreibung etablierter literarischer Schemata Erkenntnis und präzise Wahrnehmung sabotierte und eigentlich einfach fad ist. Das schließt wunderbarer Weise ein, daß viele deiner Arbeiten von großer Komik und Heiterkeit beflügelt sind und vor Übermut sprühen: „Experimentelle“ Literatur schließt ja nicht aus, daß man auch mit Kalauern aufs Härteste experimentieren kann.
Was Dich gewiß auszeichnet, ist die Deiner formalen Neugierde und Deinem Einfallsreichtum geschuldete Vielfalt Deines Werks, die weit über die anderer Künstler, Dichter oder – wie es in den hiesigen Preisbedingungen genannt wird – „Literaten“ hinaus geht. Die Vielfalt schreibt sich auch daher, daß Du Poesie, bildende Kunst und Musik so im Verhältnis zueinander siehst, daß gerade ihre Grenzen und Übergänge besonderes reizvoll und herausfordernd sind. Wenn die Begabungspsychologie von „Doppelbegabungen“ spricht, muß man bei Dir auf den Terminus „Vielfachbegabungen“ insistieren. Ich kenne Dich eigentlich nur als hoch nervös, und das hängt wohl konstitutionell damit zusammen, daß Dir immer auf mehreren Gebieten etwas einfällt und Du also – woran eh kein Zweifel ist – mindestens 104 Jahre alt werden mußt, um alles Vorgehabte zu realisieren. Hilfreich ist dabei, daß Deine literarische Imagination gottseidank nicht zum 600-Seiten-Roman tendiert, und auf Lebenswerk hin gesehen hängt die Preiswürdigkeit in ernsten Fällen und bei strengen Maßstäben ja auch nicht von 20 oder 25 Romanen mit je 500 Seiten ab. Nehmen wir als Beispiel Dein Prosastück „Die Frösche“. In der Geschichte des Inneren Monologs haben die 15 Seiten dieses Prosastücks eine ganz außerordentliche Bedeutung als Erzählung, als Gang durch die Sprache sowohl als Metapher wie auch als ‚konkretes’ Stück Literatur. Diese Leistung greife ich fast zufällig heraus, aber diese Fortentwicklung der Möglichkeiten des Inneren Monologs muß doch ganz hoch rangieren, wenn man an einem emphatischen Literaturbegriff festhält. Andere wiederum – aber warum andere? Ich selbst doch auch! – preisen aufs höchste Deine Lieder und Chansons, von den sogenannten „ernsten“ über die makabren bis zu den kabarettistischen, und mir ist es immer wieder ein Anlaß zu staunen, dabei herauszuhören, wie genau viele Deiner Lieder in der großen Tradition des Liedes der Wiener Klassik stehen, auf der anderen Seite aber zu den sprachexperimentellen Extremfällen gehören, wo ein Lied – ein wahrhaft vielsagendes – etwa aus einer einzigen Zeile besteht:
marianne, deine kunst in ehren, aber
Das nenn ich mir doch Ökonomie der Mittel! Und das analoge Stück hierzu bei Deinen Theaterstücken ist natürlich jenes Drama, das nur aus zwei Zeilen besteht, die man wahrhaft einen Dialog nennen kann:
gestatten, gustav werwolf
angenehm, trude autohacker
In der Hinsicht bist Du noch radikaler als Wolfgang Bauer in seinen Mikrodramen!
Eine Deiner Leistungen ist gewiß die Adelung der Dialektdichtung durch Deine Dialektdichtung (und die Deines Freundes H.C. Artmann und Fritz Achleitner) – es war damals für uns eine Offenbarung zu sehen, was man mit dem Dialekt dichterisch machen kann. Wenn Autoren noch etwas anderes kennen und können als eben Dialektdichtung, dann gibt es am Ende sogar Lautdichtung im Wiener Dialekt, bei der man nicht ein Wort versteht aber ganz klar erkennt, daß das Wienerisch ist. Und was die Lyrik angeht, so haben Du und Artmann (insbesondere) in der „Wiener Gruppe“ sozusagen für uns alle einen wichtigen Beitrag zur Erlösung der Lyrik aus der stimmungshaften Metaphernseligkeit der Gedichte der Nachkriegsjahre geleistet. Fast könnte man sagen, daß die „Literatur des Kahlschlags“, die um 1949 kurz propagiert wurde, eigentlich dann von ganz anderen Autoren wirklich ins Werk gesetzt wurde, als dies Prinzip, diese Intention nämlich in die Hände derer geriet, die einen ganz anderen Stand der Reflexion über Sprache erreicht hatten. Und dann reichte es sogar zu Erfindung von Zahlengedichten! Wer hätte das gedacht, daß man eine Anordnung und Rezitation von Zahlen in lyrische Spannung, ja geradezu in Dramatik versetzten kann! Dies alles aber gehört zu jenem Vorhaben, jener Methodik, die Rühms ganzer Kunst zugrunde liegt: Die radikale Exploration aller Arten Expressivität, vom Körperlichen bis zum Vergeistigtesten. Daher haben wir einerseits „Flüstergedichte“ und die „Nänie“ und dann auf der anderen Seite wieder das wahrhaft ‚tolle’, von sich selbst hinweggetragene Gedicht „Besäufnis“ in dem Band „Litaneien“ von 1973. Ich denke, daß Rühms Ingenium auch in einem besonders hohen Maße davon gespeist ist, daß die Grenze zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein, zwischen der Bilderwelt unbewußter Inhalte und Antriebe und der künstlerischen Reflexion gewissermaßen offen ist; eventuell ist dies übrigens ein Kennzeichen ganz besonders reicher und revolutionär hervorbrechender Begabungen. In allen Verlautbarungen zu seinen Absichten und in seinen Erläuterungen zu seinen Dichtungen, Klavierstücken und einzelnen grafischen Blättern kommen bei Rühm ja extrem häufig die Vokabeln „Konstruktion“, „Kalkül“, „Berechnung“ etc. vor, zugleich aber kenne ich kaum ein Werk, das so angetrieben ist, ja geradezu erzittert von Rauschhaftem, Exzessivem, Zärtlichem, Sinnlichem und Körperlichkeit ganz allgemein, bis zum blanken Übermut, der sich immer wieder Bahn bricht, immer wieder gezähmt und unter konstruktive Kontrolle gebracht werden will, und dies nicht nur Abends nach der Vorstellung und bis tief in die Nacht hinein: Ja, Übermut, der wahrscheinlich auch daher kommt, daß da einer ganz sicher ist, daß ihm unendlich viel eingefallen ist und weiter einfallen wird, so daß er sich eben nicht ängstlich an Ausdrucksformen klammern und die mit neuem ‚Stoff’ füllen muß, sondern daß ihm anderes und genuin Neues einfallen wird.
Schließlich noch eines, das anderen vielleicht nicht so sehr aufgefallen ist wie mir. Ich gehe ja berufsbedingt viel mit Literaturwissenschaftlern und insbesondere Germanisten um, und da kann ich nur sagen: Sehr wenige Germanisten sind wirklich belesen und breit an Literatur und allen möglichen Nachbargebieten interessiert. Das soll jetzt keine Schmähung sein; es ist wohl vor allem einfach der Preis, den ein (Literatur-) Wissenschaftler bezahlt für die – durchaus notwendige – Spezialisierung auf Teilgebiete oder einzelne Autoren. Aber es bleibt zu konstatieren, daß Gespräche mit Gerhard Rühm nicht zuletzt deshalb so lebendig sind, weil er in einem altmodischen und zugleich ganz exzeptionellen Sinn (und viel mehr als andere Autoren) belesen ist. Und das geht natürlich nur, wenn man – um eine alte Tugend doch noch einmal hervorzuheben und zu preisen – sehr fleißig ist.
Laß mich, lieber Gerhard Rühm, wieder in die persönliche Anrede übergehen. Ich habe am Anfang Deine editorische Tätigkeit gepriesen und kann am Ende nur sagen, daß dann, wenn auch der dritteBand der Werkausgabe von Franz Richard Behrens vorliegen wird, meine nächste Laudatio auf Dich noch emphatischer ausfallen wird.
Herzlichen Glückwunsch zum Alice-Salomon-Poetik-Preis.
Jörg Drews: Laudatio auf Gerhard Rühm zum Alice-Salomon-Poetik-Preis 2007.