Jörg Drews: Kalkulierte Übertreibungen. Zur Verleihung des Heimito-von-Doderer-Förderpreises an Kerstin Mlynkec
Meine Damen und Herren,
liebe, sehr verehrte Frau Mlynkec,
Im so genannten Literaturbetrieb kennt ja fast jeder fast jeden, zumindest ein bisschen, und man kann also oft recht gut einschätzen, was eine Autorin oder ein Autor können kann, so dass wirkliche Überraschungen eher selten sind. Da ist es dann sehr befreiend, wenn ein Autor oder eine Autorin sozusagen aus dem Nichts auftaucht und man ein Buch ganz unvorbelastet und streng objektiv lesen kann, unbeeinflusst von Informationen über die Autorin und ohne dass man gar von Sym- oder Antipathien geleitet wird, denn mehr als fünf dürre biografische Daten hat man gar nicht; Person und Biografie schieben sich dann nicht vor’s Werk. Insofern kann der Glücksfall Kerstin Mlynkec mit dem bekannten Glücksfall William Shakespeare verglichen werden, bei dem wir ja nur wirklich wissen, was auf anderthalb Seiten Schreibmaschinenpapier geht.
Kerstin Mlynkec war also im März 2004, als ihre „Drachentochter“ bzw. sie als Drachentochter die literarische Bühne betrat, wahrhaft ein unbeschriebenes Blatt, und sie ist es als Person bis heute – oder war es doch mir jedenfalls bis gestern Abend. Seit zwei Jahren aber haben wir von ihr ein Buch von hinreißendem Temperament und von anrührender Zärtlichkeit, die sich hinter ruppiger Frechheit durchaus nicht völlig versteckt, aber doch so sehr, dass man in Jurys – natürlich nicht in unserer Jury des Heimito-von-Doderer-Preises – bisweilen schwer ankommt gegen Literaturvorstellungen, die wohl eher von Creative Writing-Kursen der dort erarbeiteten Prosa ausgehen, also Wildwuchs und Heftigkeit nicht so gern prämiiert sehen wollen.
Der Spaß beginnt damit, dass Kerstin Mlynkec in der zweiten Zeile des Buches „Drachentochter“ ihren Vater eine „Rotznase“ nennt und in der letzten Zeile einen Teil ihrer Leser in einer Schwebelage zwischen Wut und Witz einfach „Arschlöcher“ betitelt. Das hindert mich nicht, „Drachentochter“ ein Buch nach meinem Geschmack zu finden, braucht aber auch niemand zu bewegen, meinen Geschmack für irgendwie outriert zu halten; schließlich beginnt ein großes Drama der Weltliteratur mit dem Wort „Scheiße!“, und ein großes Gedicht der deutschen Literatur endet mit dem Wort „Fressen“. Liegt also hier etwa „Grobianismus“ vor?
Eventuell, aber man wird ja noch einen Spaten einen Spaten nennen dürfen, und sicher sind kalkulierte Verstöße gegen den guten Geschmack bis heute eine der möglichen literarischen Rektionen auf den Zustand der Welt und auf die Art und Weise, wie einen diese Welt – im vorliegenden Fall hauptsächlich das Elternhaus und die staatliche Ordnung der DDR – behandelt hat. Außerdem aber hat die sarkastische Heftigkeit hier noch einen mehr als literarischen Grund und kokettiert nicht einfach mit vorlautem Auftrumpfen. Vielmehr drückt sich darin auch die uns allen nicht ganz fremde Erfahrung aus, dass es ohnehin keine Instanz mehr gibt, die uns die Sinnhaftigkeit unserer Existenz versichert. Und dennoch müssen oder wollen wir ja leben, und vielleicht lacht der ganze Ton des Mlynkec’schen Buches über diese absurde Diskrepanz zwischen Lebenslust und Ungetröstetheit.
Das Buch exponiert den Sarkasmus, unsere so großartige wie lächerliche Unverdrossenzeit, auch das fassungslose Kopfschütteln, mit dem wir, wenn wir nachdenken, unserer eigenen Existenz gegenüber treten: Wie ist es eigentlich möglich, dass wir in diese Absurdität namens Leben verschlagen wurden und daran auch noch hängen, obwohl wir doch nicht im geringsten daran glauben, dass Gott der Herr uns alle gezähälet, dass ihm auch nicht eines fehelet. Vielleicht kennen wir noch nicht einmal diesen Gedanken, und dennoch bleibt die Sehnsucht danach, in einem pathetischen, fast metaphysischen Sinn nicht allein und unendlich zufällig zu sein.
Die Drachentochter aber hat am Ende erstaunlicherweise immer noch die Kraft, bei aller Körper und Seele verletzender Misshandlung Nebenbemerkungen von bösem Übermut und drohender Heiterkeit zu machen und sogar beim höhnischen Porträt einer bekannten Staatsschriftstellerin namens Isa Olf deren maternalistisches Von-oben-herab nicht wirklich vernichtend zu beschreiben, sondern es bei beiläufigem Spott und Grimm zu belassen, ohne dabei versöhnlerisch zu werden.
Und wer also ist die Erzählerin des Buches, wer ist’s, der da „ich“ sagt? Mit anderen Worten: Wenn es nur ‚fiction‘ wäre, so hätte Kerstin Mlynkec dies alles, dies Geprügelt- und Getreten-werden von der Ostsee bis zum Prenzlauer Berg mit geradezu toller Erfindungsgabe imaginiert und ihrem Entwicklungsroman Details und drive verliehen. Wenn der Roman aber hoch autobiografisch wäre – was im Detail nicht nachzuprüfen ist, und außerdem ist ja auch ‚Authentizität‘ durchaus keine Qualitätsgarantie –, dann könnten wir uns nur wundern. Dass nämlich die Autorin noch lebendigen Leibes hier sitzt und den Preis entgegen nehmen kann.
Also, lassen wir das ruhig ein bisschen changieren, wir wollen ja nun nicht doch biografische Recherchen anstellen, um die Autorin auf Faktentreue im engen Sinn festzulegen. Was hier zu bewundern ist, ist ohnehin etwas anderes, wie nämlich dem Leser Erfahrungsgesättigtheit vermittelt wird in jenem Sinn, der einen da beispielsweise fragen lässt, ob nicht ein Teil der Schwäche der deutschen Literatur der letzten 20 Jahre daher rührt, dass in einem insgesamt materiell und politisch gut abgepufferten Land wie (zumindest) Westdeutschland keine schmerzhaft-substanziellen Erfahrungen zu machen sind außer Beziehungskrisen und ein paar tramptouristischen Abenteuern.
Nun kann man ja kaum jemand empfehlen, Erzählenswertes erfahren zu haben, damit seine Erzählungen Substanz bekommen; eine chinesische Verwünschung soll lauten: „Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ Doch wenn man in diesem Sinn keine großformatig-politischen und katastrophalen Erfahrungen machen musste, kommt natürlich alles darauf an, statt der Katastrophen der Welt die Abgründe in uns und in unserer engsten Umgebung zu entdecken und dafür mehr als nur die Sprache als Beschreibungsmedium zu entdecken, sondern die Möglichkeiten ihrer Schärfe als Waffe und Skalpell und als expressives Pendant zur Wirklichkeit ausfindig zu machen.
In diesem Sinn hat Kerstin Mlynkec die Entdeckung gemacht, dass Wahrhaftigkeit nur durch kalkulierte Übertreibungen und Übertretungen, durch punktuelle Verschärfungen bis zu Karikatur und Farce zu erreichen ist, durch geschmacklose Regelverstöße ähnlich denen, welche Thomas Brussig in „Helden wie wir“ inszenierte, um die Groteske, das lächerliche Rätsel der Maueröffnung im November 1989 erzählbar zu machen.
Bewundernswert an Kerstin Mlynkecs Buch ist dabei vor allem, dass sie Intensität als in jeder Sekunde erneut unter Beweis zu stellende Qualität ihrer Prosa durchhält. Das funktioniert nicht einfach deshalb, weil ihre Erzählsprache bisweilen punktuell spätexpressionistisch aufgesteilt ist, sondern weil ihr sprachliches Temperament nimmermüde ist und sie an gezähmter Erzählsprache keinen Moment Lust findet. Man merkt: Es geht ihr allgemein viel zu gesittet zu in der Literatur, und das ist ja generell sowohl eine Notwendigkeit wie eines der Probleme der Literatur – und aller Kunst –: dass sie, sie mag’s anstellen wie sie will, das Leben entschärfen muss, auch und sogar dann, wenn über wüst entgleisendes Leben in allen Formen gesprochen wird. Denn es ist am Ende halt doch nur „de la litterature“, wie Henry Miller gerne mit spöttisch spitzem Mund bemerkte, es steht nur auf dem Blatt, und wenn eine der Sehnsüchte der Literatur darin besteht, absolute Kunst zu sein, so die andere, so hart und schmerzhaft und ungemindert wie das Leben selbst zu sein. Versteht sich, dass da nur Annäherungswerte möglich sind, aber diese Spannung ist bis heute fruchtbar, ja man könnte eine Geschichte der zumindest westdeutschen Literatur schreiben als einer Geschichte des fortschreitenden Kampfes gegen die Unaggressivität, das Unpolemische, grob gesagt: die Limonadenhaftigkeit vieler westdeutscher Literatur nach 1945, die unbewusst glaubte, alle Schärfe und Polemik in der Kunst und speziell in der Literatur beschwöre unmittelbar den Bürgerkrieg wie in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren herauf. In einer solchen Literaturgeschichte wäre eine Literatur zu apostrophieren, in der der junge Arno Schmidt, zum Teil auch Wolfgang Koeppen, auch Rolf Dieter Brinkmann und auch die Theaterkonzeption Hermann Nitschs, die Anfänge von Günter Grass und etwa die sechs Seiten der autobiografischen Skizze von Dieter Roth viel prominenter figurieren würden als vieles, vieles andere, was bis heute in der Öffentlichkeit hoch im Kurs steht und doch so brav und tot ist.
Nebenbei bemerkt: Die Literatur der DDR dürfte in dieser Hinsicht noch viel braver und trister gewesen sein; es fehlte ihr die Lizenz zur unverantwortlichen Anarchie. Vielleicht ist Kerstin Mlynkecs Buch aber gar nicht in unseren teutschen Traditionen anzusiedeln, vielmehr steht – ideal und übernational gedacht – ihr gegenüber vielleicht Charles Bukowski, links von ihr Flann O’Brien und rechts von ihr Arno Schmidt, und im Hintergrund treibt sich A. L. Kennedy herum – dies ist eine Art Ehren-und Ideal-Typologie und hat nichts damit zu tun, ob Kerstin Mlynkec diese Autoren kannte oder kennt, und wenn ja, ist sie nicht verpflichtet, sich zu deren ‚Einfluss‘ zu bekennen, obwohl ich für ihre Bekanntschaft mit den frühen Romanen Arno Schmidts die Hand ins Feuer legen würde.
Ihr Buch ist getragen von einem Energieüberschuss, der sich äußert in einem Überschwang von Wut und Sarkasmus und einem Überschwang von Glück; sprachkünstlerisch aber hat sie so ganz nebenbei die Kraft, eine Moritat vom Totgeprügeltwerden zu kombinieren mit ihrer höchst persönlichen Variante des bekannten Berichts „Ein Kind wird geschlagen“ von Sigmund Freud und zum Beispiel auch eine Etüde über den bekannten Satz „Je est un(e) autre“ einzuschieben, die eben nicht sehr feinsinnige Variation auf die schon im 19. Jahrhundert in der französischen Avantgarde gemachte Beobachtung, dass wir diskontinuierlich, in uns inhomogen und, wenn wir über uns sprechen, Subjekt-Ich und Objekt-Ich zugleich sind. Die im Buch Namenlose ist nicht einfach, sondern mindestens zweifach Kerstin Mlynkec, die sich versuchsweise mal ICH (großgeschrieben) nennt und sich von sich weg hält. Das ist wunderbar irritierend, weil es eine feinsinnige Reflexion in grotesker Konkretion unterläuft; es ist ‚experimentell‘, jawohl, und es ist ‚lyrisch‘, jawohl, wenn man einen vernünftigen Begriff von Lyrik hat. Und dann gibt es noch einen diskreten kleinen Hinweis darauf, dass wir nicht einfach Ich-Erzählerin und Realperson Mlynkec gleichsetzen dürfen, denn im Präteritum wird von ihrem fünfzigsten Geburtstag erzählt – und der war doch noch gar nicht.
Staunenswert aber ist hier vor allem, wie bei Kerstin Mlynkec innerhalb eines Satzes Wut, Übermut, Hohn und Sarkasmus und die Bereitschaft, erneut unverdrossen aufzubrechen, so rasch wechseln wie Wortneubildungen, ungewöhnlicher Verbgebrauch, bizarre Metaphorik und notfalls auch Kalauer abwechseln, die so schlecht sind, dass sie schon wieder große Klasse haben. Dem Leser wird eine Serie von Nasenstübern, Remplern und forcierten Sprachkunststückchen versetzt und vorgesetzt; das hat den Vorteil, dass man hellwach bleibt bei der Lektüre, die einen auch baff und bass erstaunen lässt über die Namen der Leute, mit denen die Erzählerin ein bisschen harmoniert und häufig kollidiert. Namengebung in der Literatur ist ja noch mal ein ganz eigenes Kapitel; hören Sie sich nur im Vorbeigehen mal an, wie Figuren bei Kerstin Mlynkec heißen – Pseudonyme und Spottnamen und Verkorksungen als V-Effekte und gegen Wiedererkennbarkeit? –, also beispielsweise: Klira Matt – Schweinezahn – Okla Ahoma – Erla Mia – Utma Ransom – Herkules Locher – Trokka Dia – Creo Sabinas – Trixi Fixi – Wally Schlicks – Sigrit Service, und so, und noch kein Ende, und das sollen Namen aus der DDR-Bevölkerung sein? Wo werden die ab- und hergeleitet? Was geht da vor?
In summa: Ein Kind; das als Monster gilt, manchmal auch so handelt und dabei doch nur progressiv entdeckt, dass die Welt monströs ist und vor allem die Menschen in ihrer Mehrzahl monströs sind, ein Kind also, das sich eigentlich nur durchaus adäquat verhält – von ihm wird erzählt. Wunderlicherweise hat dieser Mensch Kerstin Mlynkec sich seine desperate Aggressivität glücklicherweise erhalten, so dass wir also jetzt dies bizarre Wunderwerk von einem pikaresken Desillusionsroman lesen können, den Entwicklungsroman einer Picara, die am Ende nicht ihr Glück gemacht hat, aber durchgehalten, nach dem Motto: „Ich entschloß mich, trotzdem zu leben. Und das ist es, was mich so allgemeingefährlich macht.“
Allerdings: „Ich bin nicht so grässlich, wie ich sein möchte.“ Das ist keine Versöhnung, sondern eine neue Drohung gewissermaßen, die uns auch literarisch hoffen lässt. Das Geburtsdatum von Kerstin Mlynkec wird wechselnd mit 1958 und 1959 angegeben; beide Daten passen mir, denn die Autorin stammt aus jener Zeitspanne, in der die deutsche Nachkriegsliteratur (zumindest die westdeutsche) der fünfziger Jahre, aus denen eigentlich heute nur Paul Celan und Arno Schmidt und als Kritiker der Kölner Albrecht Fabri überlebt haben, eine erfrischende Wendung nahm, nicht mehr rückwärtsgewandt und geduckt war, sondern in der Prosa von Gerhard Rühm und dem frühen Günter Grass, von Peter Weiss und Dieter Wellershoff bis Alexander Kluge einen neuen Anlauf nahm und: „…von da an ging’s bergauf“, Hildegard Knefs Satz einmal umgedreht.
Kerstin Mlynkec hat uns einen Sozialreport einer oder ihrer Kindheit in der DDR geschrieben, eine Landstörzerei von Totenwinkel an der Ostsee zum Prenzlauer Berg und dann in die Welt hinaus, vibrierend vor Lebendigkeit, und jetzt fragt sich nur, wie bringt man ein solches Buch zu Ende, irgendwann hat es ja eine letzte Seite. Diese Seite 288 von Mlynkecs Buch ist so schroff und einleuchtend, so zärtlich, übermütig und sackgrob, dass es eine Lust ist. Aber man konnte ja nach einem solch renitenten Buch auch nicht erwarten, dass plötzlich wieder wohlanständige Sanftmut die Flöte bläst. Ich werde Ihnen diese letzte Seiten nicht zitieren, ich nähme Ihnen die Lust der Entdeckung dieser Seite, und: Selberlesen macht klug. Stattdessen hier am Ende einen großen, einen richtig schönen programmatischen Satz der Autorin: „Niemandes Erwartungen mehr entsprechen zu müssen, auf Kosten der Geborgenheit. So stellte ich mir die Freiheit vor und nahm sie beim Wort.“ Das hat uns gefallen, uns, der Jury des Heimito von Doderer-Preises. Wir gratulieren Kerstin Mlynkec sehr herzlich.
2. September 2006, Köln
Jörg Drews: Kalkulierte Übertreibungen. Zur Verleihung des Heimito-von-Doderer-Förderpreises an Kerstin Mlynkec. In: Literaturkritik.de. Nr. 10, 2006.