Jörg Drews: „Teilweise bedeutend“. Essays von Werner Kraft
Werner Kraft verdanken wir mehrere wichtige Bücher zu deutschen Literatur, darunter das Werk über Karl Kraus. Als ein Parergon zu dem Kraus-Buch ist wohl der nun in „Rebellen des Geistes“ enthaltene Aufsatz über Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus aufzufassen, der eine hilfreiche Klarstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Kraus’ Sprachkritik und Wittgensteins Kritik an der Sprache bietet, eine Analyse, die mir aber Kraus’ Position deutlicher zu machen scheint als Wittgensteins Intentionen, und die wohl nicht zufällig am Ende Wittgenstein fast völlig aus den Augen verliert. Der Band enthält zwei weitere eher philosophisch gerichtete Essays über Valérys poetologische Konzeption und über den russischen Philosophen Leo Schestow, mit dem auch Martin Buber sich befasst hat und in dem Kraft einen Vorläufer der Philosophie des Absurden sieht.
Mit Wärme und Spürsinn fürs sprachliche Detail spricht Kraft aber vor allem in seinen Aufsätzen zur Literatur im engeren Sinne. Ohne eine runde „Interpretation“ bieten zu wollen, ohne philologischer Pedanterie zu verfallen, gibt er in seiner Erörterung von Lessings „Emilia Galotti“ Hinweise auf alle entscheidenden Stellen des Dramas, auf Personen und Dialogtechnik und auf die Stellung des Stücks in der zeitgenössischen Dramenproduktion. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der Figur der Gräfin Orsina; sie und Emilia sieht er als zusammengehörig, als „Geschwister des Untergangs“, und entdeckt, daß Lessings Sympathie auf Seiten der Orsina gewesen sein muss, die – obwohl oder weil fürstliche Hure – ein Beispiel befreiter, emanzipierter weiblicher Erkenntnis gibt in ihrem gegen den Fürsten und gegen alle Herrschaft des Mannes gerichteten schneidend ironischen Satz: „Ein Frauenzimmer, das denket, ist ebenso ekel als ein Mann, der sich schminket.“
Kraft sieht, daß Orsina und der Fürst nur die radikaleren Pendants zu Minna und Tellheim sind: Schon Minna zeigt ja Anfänge emanzipierter weiblicher Vernunft, ist sogar vernünftiger als der bocksteife und ehrpusselige Tellheim; in einer beiläufigen Bemerkung notiert Kraft auch, daß bei Goethe, der auch hierin feudalistischer gesinnt ist als Lessing, solche Frauengestalten noch nicht vorkommen.
In seiner aufrichtigen, prosaischen Männlichkeit Lessing verwandt ist der fast vergessene J. G. Seume; Krafts anonym erschienene Einleitung zu einer Auswahl aus Seumes Schriften (1962) ist in dem Essayband mitaufgenommen, eine Charakteristik dieses „berühmten Wanderers“ (Goethe), die vorteilhaft absticht von H. Schweppenhäusers Nachwort zu der Ausgabe von Seumes „Apokryphen“ in der sammlung insel. Kraft sieht Seume in einer Gruppe deutscher Citoyens, republikanischer politischer Geister, die, nicht der Sphäre der Klassik angehörig, kulturell hinter ihrer Epoche zurückbleiben, um ihr – wie etwa C. G. Jochmann, über den es eine umfangreiche und ungedruckte Studie Krafts geben soll – „politisch, ökonomisch, sprachkritisch voraus sein zu dürfen“. Und eben das „sprachlich-sittliche Verhalten“, wofür Seume nach Kraft ein Beispiel gibt, fasziniert ihn auch an Hermann Broch, den uns zeitlich am nächsten stehenden der deutschen Autoren, die Kraft behandelt. In der Bewertung des „Tod des Vergil“ möchte man mit Kraft nicht ganz konform gehen; ist darin nicht die Form des inneren Monologs überstrapaziert, ist nicht – was ein gewichtigerer Einwand wäre – die Intention, die eingestandene Idee zu handgreiflich, zu durchsichtig, zu einfach an der Figur Vergils exemplifiziert und „dargestellt“, wird nicht die Erzählung zu sehr Vehikel der vorgegebenen Problematik – Kunst versus Erkenntnis, Schönheit versus menschliches Leid –, die von dem Roman allzu glatt ablösbar und ablesbar ist?
Gewichtiger noch als die Essays scheint mir das Kafka-Buch zu sein. Die den verschiedenen „Rebellen des Geistes“ gewidmeten Aufsätze gehen kaum über die kluge, bisweilen glänzende Erfüllung des Anspruchs der Gattung des literarischen Essays, der Interpretation, der Gesamtcharakteristik eines Schriftstellers hinaus, während Walter Benjamin schon die frühesten der Kafka-Kommentare Krafts in einem Brief an Gershom Scholem „teilweise bedeutende Auslegungen“ nennt. Was Kraft gibt, ist weniger eine Analyse des Kafkaschen Werkes als vielmehr ein laufender Kommentar, eine Art interpretierender Interlinearversion, in der das Zitat und die nachdenklich und behutsam kommentierenden Sätze einander fast rhythmisch folgen. Das Verfahren der halb rekapitulierenden, halb zitierenden Vergegenwärtigung des Werkes, durchsetzt mit seiner fortlaufenden Kommentierung, ist hier wesentlich wirkungsvoller und dem Autor angemessener als bei Krafts Behandlung von Brochs „Tod des Vergil“. Kraft ist sensibel und vorsichtig genug, programmatisch neben dem Versuch der „Durchdringung“ von Kafkas Werk dessen „Geheimnis“ bestehen zu lassen, ehrlich genug auch, zu gestehen: „Eine vollständige Erklärung des Schlosses ist unmöglich …“. Doch wie er etwas Licht in das Dunkel dieses Romans bringt durch die Betrachtung der verschiedenen Briefe im „Schloß“, die durch ihren „unveränderlichen Schriftcharakter“ Auslegung heischen, so verhält er sich insgesamt zu Kafkas Werk als zu Schriften von großer Aktualität, so also, wie sich wohl ein jüdischer Schriftgelehrter zu den heiligen Texten des Judentums verhält.
Das bedeutet nicht, dass er Kafkas Werke nur oder vornehmlich auf dessen Beziehung zum Judentum interpretiert; er notiert selbst, es sei „im höchsten Grade mißlich, diesem Werk jüdischen Inhalte zu entnehmen“. Doch ließen sich „aus Kafkas Judentum bei vorsichtiger Formulierung gewisse Rückschlüsse auf seinen Denk- und Sprachstil ziehen und von daher auch auf seine religiöse Haltung“. Krafts Werk ist kein im herkömmlichen Sinn „philologisches“, keines, dem ohne weiteres in die Kafka-Forschung transferierbare Resultate zu entnehmen wären – was nicht bedeutet, daß die Philologie ganz fehlt; doch hat Kraft alle Fußnoten ans Ende verwiesen, und diese 15 Seiten mit Anmerkungen kann man fast unabhängig vom Text lesen, und man kann wie nebenbei Krafts staunenswert einsichtsreiche Darstellung der Beziehungen zwischen Kafka und Kraus mitnehmen. Das Buch ist eine scharfsinnige Meditation über Kafka, die sich immer ganz nah am Text hält und nur selten zu generalisierenden Sätzen gelangt, dann aber zu so gewichtigen wie dem folgenden: „Bei Kafka hat die Prosa … die Funktion, die zu ihrer eigenen Leere erwachte Welt mit dem Mut zur Selbstzerstörung unverhüllt auszusprechen.“
In einem anderen Brief nannte Benjamin Krafts Kafka-Kommentare „zurückhaltend und keineswegs einsichtslos“. Die zweite dieser beiden Kennzeichnungen darf man als ein Understatement bezeichnen.
Jörg Drews: „Teilweise bedeutend“. Essays von Werner Kraft. In: SZ, 18.9.1968
WERNER KRAFT: Rebellen des Geistes. Sechs Essays. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, 164 Seiten, 17,80 DM.
WERNER KRAFT: Franz Kafka. Durchdringung und Geheimnis. Bibliothek Suhrkamp 211, 215 Seiten, 6,80 DM.