Jörg Drews: So gliederlösend muss die Liebe klingen. Ein Sprachkörper für die Körpersprache: Anja Utlers Gedichtband „münden – entzüngeln”
Wo anfangen? Anja Utler fängt da an, wo artikuliertes Sprechen einerseits einsetzt und die grundlegenden einzelnen Wörter andererseits angesiedelt sind, irgendwo im Menschen – und wo das ist, wissen wir trotz aller Hirnforschung nicht, und wenn wirs wüssten, würde dies kein einziges Gedicht hervorbringen. Insofern wissen die Hirnforscher ungefähr so viel über Sprache wie die Linguisten. Aufgabe der Poesie aber, so könnte man vielleicht sagen, scheint spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sein, das „Wissen” der beiden oben genannten Fraktionen zu unterlaufen, zu hintergehen und etwas zu produzieren, vor dem sie fassungslos stehen.
Anja Utler, wie gesagt, fängt an einem imaginären Punkt an; der ist ein Konstrukt, aber ein überzeugendes: Da, wo Artikulation als physisch-expressiver Vorgang beginnt und zugleich die hervorgebrachten Wörter eben doch etwas bezeichnen, etwas Physisches, etwas Bildhaftes, Bedeutungsfelder, wo auch einander ähnelnde Wortarten sich häufen, zueinander zu gehören scheinen. Sie schafft „verflechtungen”, bis man oder damit man nicht mehr weiß, ob da die Rede von einem Abschnitt eines Bachs oder von einem Körper ist, der von „fließen” durchzogen ist? Ist mehr das Strömen dominierend oder sind es irgendwelche kleinen Widerstände gegen das Fließen? Ist hier vom Körper drinnen oder von der Natur draußen die Rede?
Dabei sind ihre Gedichte – sind das noch Gedichte? Ja, so etwas darf mit Fug „Gedicht” heißen – eben gar nicht abstrakt, sondern eigentlich nur konkret, und sie wirken vielleicht abstrakt, aber nur weil der Leser natürlich ein sprechendes Ich und eine thematische Idee vermisst; aber Sprechende oder Angeredete sind durchaus da:
glimmen sagst, splitter sie: blinken, sie
knistern dir zu das ist: lichtspreu sagst
so: sprühts dir zu es tritt tränkend dir –
Es ist unfair, ein solches „zwischenstück” zu zitieren, aber fast alle Gedichte Anja Utlers sind Zwischenstücke, sind Abschnitte, Übergänge, Phasen in Verläufen, die dann „gründen – sich eintauschen” oder „balancen” heißen können oder „übernahmen” oder „auslösung” (wieder ganz körpernah zu denken: wie ein Knochen aus dem umgebenden Fleisch ausgelöst wird). Wörter, sagt uns die Sprachtheorie – ach was, „Wörter” ist noch ein viel zu edles Wort, sagen wir lieber superneutral: „Zeichen” – Zeichen also sind natürlich ganz willkürlich, haben keine notwendige Beziehung auf das Bezeichnete. Poetische Sprache arbeitet sich daran ab, eine notwendige Beziehung vom Wort auf das Benannte herzustellen, einen Text so zu fügen, dass das Bezeichnete gar nicht anders als mit diesen Wörtern oder Worten in Erscheinung treten kann. Von der Wahl der Wörter oder Bilder her könnte man von Anja Utler sagen: Sie schreibt Körpergedichte, sie schreibt Naturgedichte, sie schreibt Liebesgedichte (nur macht sie keine Show daraus, lässt kein Kniegelenk lösendes Sentiment zu); sie wird wahrhaft „intim” mit ihren Sujets, aber sie wird, sozusagen, nicht persönlich. Aber doch sehr zärtlich.
Kein mythologisches Dekor
Was besonders hoch zu schätzen ist: In vier Gedichten wagt Utler sich an Mythen, an mythische Denkfiguren heran, und das glückt so ernst, weil sie keine Bildungspoesie daraus macht, nicht mit antiken poetischen Formen herumwirft noch bildungstouristisch in der Nähe der Cestius-Pyramide herumsitzt, sondern sich in Marsyas und Daphne, Chronos und die Sibylle hineinschmiegt, kein mythologisches Dekor braucht, sondern in den Konvulsionen des Leidens drin ist. Furchtbar umkreist sie Apolls Opfer Marsyas, bewegt klagt sie für Daphne. „Cantabile”, sangbar, wohllautend ist keines ihrer Gedichte, aber muss nicht so lockend, so rauh und gliederlösend die Liebe im Gedicht heute klingen?
will schon: du treibst dich mir zu
willst zum abbruch hin, hänge, du
trägst mir den: schiefer ab, schürfst,
ihn vom: kopf weg, den schultern
in wurzelstock kehle geröll: trennst mich
machst – wie entzwei sein – die scharfen
konturen mir fänge den wolfsrachen
fragen auch – werde ich? –
ich – schlag dich mir zu
Jetzt wäre noch zu handeln von den sprachrhythmischen Künsten von Anja Utler, wie sie den Fluss der Worte aufhalten, stauen kann und damit Dynamik und Körperlichkeit in ihre Zeilen bekommt. Was hiermit in Kurzform geschehen ist. Und nun noch ein hohes Lob für die wahrhaft geschmackvolle und gediegene Herstellung dieses außerordentlichen Gedichtbandes. Alles sehr aufregend und bemerkenswert.
Jörg Drews: Anja Utler: münden – entzüngeln. Gedichte. Verlag Edition Korrespondenzen, Wien 2004. 92 Seiten, 17,40 Euro. In: SZ, 23.9.2005.