Jörg Drews: „Der wilde Galopp eines sehr dezenten Pegasus“.
Mit allen Wassern der Wiener Avantgarde gewaschen, und doch sehr anrührend: Ferdinand Schmatz‘ Künstlerroman „Durchleuchtung”
Dieser ungewöhnliche Roman ist unbändig und still zugleich. Warum heißt er „Durchleuchtung”? Weil Franz womöglich krank ist und jedenfalls geröntgt werden muss, und später auch noch eine Computertomographie dazukommt? Professor Pokisa jedenfalls will auf Feststellbares hinaus, aber Franz ist Künstler, gewissermaßen eine adelige Seele (die Ironie dieser Einbildung schwebt leise durch das Buch), also eine Art „Durchlaucht”. Pokisa will auf dem Röntgenbild etwas sehen, Franz’ Selbstanalyse kommt zu viel schwieriger greifbaren Resultaten. Aber verglichen mit diesen sieht die Koryphäe Pokisa alt aus.
Ein Künstlerroman also. Er setzt ein mit einer Krise – der Erkrankung? – , und Franz holt selbstprüfend ein paar wichtige Bilder aus seiner Kindheit zurück, Kinderfotos, Erinnerungen, „Aufnahmen”: er als Achtjähriger auf einer Wiese, irgendwie schwebend dabei eine idyllische Liese (nur des Reimes willen?), Röntgenaufnahmen auch, wie gesagt, und „Aufnahme” heißt ja schließlich auch die Abteilung im Krankenhaus, durch die er durch muss. Und der gesamte Roman ist so etwas wie eine Momentaufnahme von Franz, 55, Wiener Schriftsteller. Außerdem ist offenbar eine Krise eingetreten auch in seiner Beziehung zu seiner Danja – seltsamer Name: Ist sie seine Muse (und heißt eigentlich Nadja, aber buchstabenumgestellt)?
Verunsichert, durchaus ein wenig komisch verunsichert ist dieser Franz („,Franz’ heißt die Kanaille … ?)”, der manchmal seltsamerweise auch Ferdinand heißt – sind das nicht zwei Personen bei Schiller, und Ferdinand ein bisschen der Autor? Und wenn Danja eine anagrammatische Nadja ist, treibt sich dann André Bretons surrealistische Nadja im Hintergrund herum, als Muse, Inspiration, Rätsel?
Spöttischer Ferdinand
Wenn die Bezüge ganz deutlich wären, hätten wir einen Schlüssel-, Anspielungs- und Bildungsroman vor uns, aber das ist hier jedenfalls nicht das Wichtigste. Denn wenn ein Künstlerroman was taugt, sagte einst Adorno, dann muss er glaubhaft und konkret vorführen, wie die Kunst aussieht, die dieser Künstler macht, und er muss vorführen, wie ein Künstler denkt, wie er Gegenstände miteinander verknüpft (eben nicht bloß über grobe Handlungen und eindeutige Gedanken), welche Metaphern er bildet, und das heißt auch: Was für eine Sprache er spricht, wenn er fühlt, wenn er liebt und wenn er über seine Liebe – sagen wir: zu Danja – schreibt.
Und das ist so bezaubernd an diesem ungewöhnlichen Roman, dass dieser Franz – manchmal tritt aus ihm der Ferdinand heraus und beobachtet und erzählt alles liebevoll spöttisch von außen – so unsicher und gedankenreich herumfuchtelt, sich an seinen Werdegang erinnert, über Sprache nachdenkt und über gegenwärtige Kunstdebatten, immer pro domo denkend und sprechend, so irritiert wie entschlossen, einen emphatischen Kunstbegriff hochzuhalten. Das heißt, es wird nicht einfach behauptet, er sei Künstler, sondern dieser Sprachkünstler wird konkret: in seinen Metaphern, seinen Bildern, seinen Verknüpfungen.
So wird zum Beispiel deutlich, wie das ist, wenn ein Dichter sich mit seinem Gegenüber, einem Gegenstand, sagen wir einem Apfelbaum, empathisch in eins setzt, sich hineinsteigert in das Gefühl, er sei der Apfelbaum – nur dann kann er wirklich lyrisch vom Apfelbaum sprechen. Das ist ja das Allerernsteste des Dichtertums, diese närrische Seite äußersten Sich-Einfühlens, aber Schmatz weiß natürlich, dass solche Empathie nur reflektiert zu haben ist – und dass die Reflexion selbst durchaus wieder lächerlichen Moden unterworfen ist, und deshalb gibt es hier Passagen, in denen der Jargon veräppelt wird, der nicht nur in Wiener Dichter-Intellektuellen-Kreisen in den vergangenen dreißig Jahren gesprochen und geschrieben worden ist. Und nicht ohne entspannte Komik taucht ein nahezu begriffsterroristischer Hintergrundsphilosoph und intellektueller Groß-Meister namens Konwald auf, in dem man getrost eine Mischung aus Konrad Bayer und Oswald Wiener sehen darf. Just davon aber hat der Franz des Buches Distanz gewonnen.
Er stellt sich in zeitgenössischem Wiener Setting die alte Frage „Wer bin ich?”, und es ist atemberaubend, wie unschematisch die Künstlerpsychologie ist, die da entfaltet wird, wie weit entfernt von dem, was man in vielen Romanen dieses Herbstes an unglaublich unsubtiler, hölzerner, auf den Markt zielender Psychologie antrifft. Schmatz ist da viel gelenkiger, spöttischer, selbstironischer, „wilder” – und schüttelt leise auch über die eigenen Avantgarde-Theoreme den Kopf. Fürs Lesen heißt das, dass man das Lesetempo ein bisschen reduzieren muss; „sich reinziehen” ist hier nicht möglich.
Mann mit der Löwenpranke
Aber dafür genießt man Weisen des Sprechens, auch des Mit-sich-selbst-Sprechens, die aller gröblichen Schematik entbehren, die Bilder und Metaphern in Dienst nehmen, ohne gleich dick und vulgär ‚Symbolik‘ zu schreien; ganz beiläufig ist etwa vom „Pferd” die Rede und allmählich wird einem klar, dass da – wie sollte es bei Franz, dem Poeten, nicht so sein dürfen – dezent das Dichterross Pegasus gedacht werden darf. Am Ende möchte Franz – ohne dass damit so etwas wie eine ‚Lösung‘ suggeriert wird, sich doch in einem Zeichen, einem ‚Bild‘ draußen wiedererkennen, sozusagen intelligent stärken, und also läuft er ins Museum und schaut sich ein Bild von Lorenzo Lotto an, einem Mann mit einer Löwenpranke; den studiert er, getrieben von dem rührenden Ehrgeiz, selbst ein solcher Mann mit einer Löwenpranke zu werden: ein großer Schriftsteller, von dem es heißen kann: „ex ungue leonem!”: An der Pranke erkennt man den Löwen! Das ist der letzte Moment der Selbstvergewisserung, ernsthaft und hochironisch zugleich, bildkräftig, melancholisch und ohne absolute Zuversicht des Gelingens, aber dann doch aussagekräftiger als Professor Pokisas Röntgenbilder.
Wer aber Franz dennoch nicht glaubt und ihm hirnig hochgezwirbelte Sätze nicht abnimmt wie „Das Machen von Kunst ist natürlich künstlich”, der lese die Seiten 253 bis 274, Danjas Dialog mit ihm (der davon natürlich (noch) nicht weiß), der eine Balance in Franz’ Selbsterforschung bringen könnte, gleich, ob Franz dies Angebot annehmen, ja überhaupt wahrnehmen kann oder nicht. Das hat die Höhe von Mollys Monolog als Penelope am Schluss von James Joyces „Ulysses”.
Jörg Drews: Ferdinand Schmatz, Durchleuchtung. Ein wilder Roman aus Danja und Franz. Haymon Verlag, Innsbruck 2007. 300 Seiten, 19,90 Euro. In SZ, 29.12.2007.