Jörg Drews: Deutscher Geistesverkehr – Ein Fund: Die Erinnerungen des Germanisten Georg Witkowski
„Auf ewigen Sitzen, erhaben über das Getriebe der Nachwelt, thronen, Göttern gleich, die Großen unserer klassischen Zeit. Noch immer wenden wir, dankbar bewundernd, Hilfe und Erhebung suchend, unsere Blicke zu ihnen; aber wollen wir ihnen nahen, so müssen wir uns aus der ruhelosen Gegenwart in ihre stille, hohe Welt der Ideale hinaufschwingen.” Du lieber Himmel, wo hat Arno Schmidt dies Zitat von Georg Witkowski nur her? Ich habe es nicht gefunden, aber als Schmidt es 1958 in das „Vorspiel” seines Bandes mit Radio-Essays namens „Dya Na Sore” packte, machte uns das schon mächtig Eindruck: Das war ja wirklich bratenröckiger Professoren-Wilhelminismus, eine dämliche Heldenverehrung, eine benebelte Klassiker-Anbetung!
Arno Schmidt hat das zwar hübsch demagogisch postiert im Eingangsportal zu jener literaturhistorischen hall of fame, die der Funk-Dozent A. S. zwischen 1955 und 1965 erbaute, und so war zunächst auch mir der Name Georg Witkowski Anathema. Aber dann fiel mir schon vor Jahren eine exzellent kommentierte „Faust”-Ausgabe in die Hände – weißderTeufelwievielte Auflage, 1950 (!), mit einem Kommentar von Georg Witkowski, solide gearbeitet – und nun hat der junge Verlag des Germanisten und Buchhandelshistorikers Mark Lehmstedt in Leipzig die Erinnerungen von Witkowski herausgebracht, und man kann als einstiger Witkowski-Verächter nur beschämt und entzückt zugleich sein.
Denn der alte Kollege, 1863 bis 1939 lebte er, und vornehmlich in Leipzig, zeigt bürgerliche Noblesse, und dies sozusagen bis zum letzten Moment. Seine Gelehrtenautobiographie hat er auf Drängen seiner Tochter zwischen 1937 und 1939 niedergeschrieben, noch in Leipzig, wo er ab 1933 Lehrverbot hatte und auch die Universitätsbibliothek nicht mehr benutzen durfte – und dennoch fällt kein bitteres Wort über Nazideutschland, so, als könne er eigentlich gar nicht glauben, was geschah und was auch ihm selbst schon geschehen war: zwei Wochen im Gefängnis, aufgrund von – nichts, nur vernommen und vernommen, und dann gedemütigt entlassen. Da merkte er dann aber doch, dass seines Bleibens in Deutschland nicht mehr war, geht im Mai 1939 nach Amsterdam, wo er im September 1939 stirbt, ein deutscher Jude und Ordinarius, 1931 emeritiert und 1933 aufgrund des infamen „Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums” aus dem Dienst und Beamtenverhältnis entlassen. Es ist, wieder einmal, ein trostloser Fall.
Jesus, Goethe und Plato
Georg Witkowski, ein aufgeklärter Mann mit einem „dogmenfreien Glauben” und einem so geringen Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Judentum, dass er zum Protestantismus hatte übertreten können und einer evangelischen Reformgemeinde angehörte. Sein Glaube war, dass Jesus „neben andere große Gottessöhne” wie Goethe und Plato zu stellen sei; mit anderen Worten, er war ein Deutscher, wie nur einer Deutscher sein konnte. Er war aufgewachsen in einer Familie, deren großes Vermögen in den Wirtschaftskrächen um 1875 zerstört wurde, der sich also anstrengen musste und dann sein Gelehrtenleben führte in jener Atmosphäre unvordenklicher bürgerliche Sicherheit, sogar mit einem Stich bürgerlicher Selbstzufriedenheit, wie sie etwa Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert” oder Walter Kempowski in seinem Roman „Aus großer Zeit” vermitteln.
Witkowski ist noch ein Germanist im umfassenden Sinne, zuständig für die ganze neuere Abteilung, von Martin Opitz bis zum frühen 20. Jahrhundert, mit Interessen, in deren Zentrum natürlich Goethe steht. Die Teilnahme an den Tagungen der Goethe-Gesellschaft in Weimar ab 1888 ist ihm selbstverständlich. Er hat „Geistesverkehr” mit „trefflichen Ägyptologen” (welche herrliches wilhelminisches Vokabular!), frönt der Theaterleidenschaft, geht zu allen Gewandhauskonzerten, ist ein Kulturkonservativer, wie er im Buch steht, aber zugleich ein Liberaler: Vor Gericht tritt er als Gutachter zugunsten von Arthur Schnitzlers „Reigen” auf: nein, das ist nicht Schmutz und Schund! Er promoviert den späteren Verleger Georg Bondi und – man höre und staune! – Erich Kästner; seine Colloquien finden meist privatissime zu Hause am ovalen Speisezimmertisch statt.
Wie gut, dass die Tochter im Jahre 1937 dem Vater diese Aufzeichnungen abverlangt hat! Sie sind von einer geradezu gespenstischen Gediegenheit, denn als er die Feder niederlegte, war das Schicksal dieses Bürgertums und des deutschen Judentums ja schon besiegelt. Dass Witkowski wahrscheinlich die Dimension dessen, was da geschah, gar nicht aufging, spricht geradezu für ihn: Es war ja auch unfassbar. „Von Menschen und Büchern” aber ist ein wunderbares und menschlich bewegendes Stück deutscher Leipziger Kulturgeschichte. Und das Zitat am Anfang dieser Besprechung? Ach, da ist mit Witkowski wohl einfach mal der Gaul der Pompösität durchgegangen. Ein Glück, dass das Manuskript aus seinem Nachlass in die Hände eines Verlegers geriet, noch dazu in die eines Leipziger Verlegers.
GEORG WITKOWSKI: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863 – 1933. Mit einem Nachwort von Bernd Weinkauf und einer Bibliographie. Verlag Mark Lehmstedt, Leipzig 2003. 526 Seiten, 24,90 Euro.
Jörg Drews: Deutscher Geistesverkehr. Ein Fund: Die Erinnerungen des Germanisten Georg Witkowski. In: SZ, 21.9.2004.