Jörg Drews: Ach so! Ein Franzose erklärt uns nun, worum es in Becketts „Warten auf Godot“ wirklich geht. Und nennt Gründe für die meisterhafte Geheimniskrämerei
Wir alle wissen, dass »Warten auf Godot« irgendwo in einer gottverlassenen Gegend spielt; an einem Abend warten da zwei Penner auf einen gewissen Godot, und es ist auf tiefsinnige Weise nicht herauszukriegen, was mit diesen Clowns los ist: Man lacht beunruhigt und vom Nichts angeweht.
Ein gewisser Valentin Temkine schaute sich vor ein paar Jahren den Text noch mal an – beschämender Weise muss man sagen: so aufmerksam, wie wir alle ihn hätten anschauen können –, und bemerkte eine ganz konsistente Kette von Stellen, die einen anderen Subtext des Stück nahe legen.
Wenn man aber Temkine senior im Gespräch mit seinem Enkel hört und die fünf anderen Kritiker und Philologen, deren Aufsätze in diesem Bändchen beisammen sind, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: In »Warten auf Godot« kommt der Eiffelturm vor, und zwar (leicht erschließbar) zu einem bestimmten Zeitpunkt (circa 1940), es ist vom Roussillon die Rede und dem Vaucluse, von der Gegend La Roquette in Paris, von Landkarten in einer bestimmten Pariser Schule, die Vladimir und Estragon beide vor sich hatten, und dann ist da ein Winzer Bonelly und erschließbar auch das Frühjahr 1943.
Und so behauptet die metaphysische Lesart nicht mehr allein ihr Recht, sondern ihr an die Seite tritt eine durchaus historische Lesart, gesättigt mit der Kenntnis einer ganz konkreten Situation: jener nämlich der Ausländer und französischen Juden, die sich 1942/43 ins Roussillon geflüchtet hatten, jetzt aber durch die Nazi-Besetzung Rest-Frankreichs bedroht waren und nur noch einen Ausweg sahen: sich durch Schleuser über die Grenze nach Savoyen bringen zu lassen, weil – bis zu dem Zeitpunkt jedenfalls – das faschistische Italien die nazistische Rassenideologie eher lax handhabte.
Atemberaubende Aufsätze
Das Sensationelle und methodisch absolut Bewundernswerte dieser Handvoll Aufsätze um Valentin Temkines Beobachtung herum ist nun die detaillierte Erörterung, warum der Résistence-Mann Samuel Beckett, der in den besagten Jahren in der östlichen Vaucluse sich verbarg, die ›realistischen‹ Details verhüllt und das Geschehen enthistorisiert, dem erfolgreichen Missverständnis seines Stückes ab 1953 nicht offen entgegentritt, offenbar also resigniert, und sich dem Schreiben noch viel abstrakterer Texte zuwendet.
Das, sagen die Beiträger, lehrt uns viel über eine Ästhetik, die nicht Pathos anstimmt (oder doch nur ein durch Groteske gebrochenes), die nicht eine heroische oder verzweifelte Anekdote erzählt, die nicht den Kulturbetrieb melancholisch bedient (mit dem Paradox, dass nun gerade die Evidenz der historischen Anspielungen erst recht übersehen, sprich: verdrängt werden konnte).
Becketts Stück also in einer atemberaubenden neuen Schwebelage, Beckett als Autor in der Nachbarschaft der KZ-Bücher von Robert Antelme und Primo Levi, in einer Dichte, die wir übersehen haben, weil Beckett sogar noch das negativste Pathos unterlief, indem er in seinem »mageren Stil« nur noch dehydrierte Landstreicher auftreten ließ – und genau das lenkte uns ab.
Übrigens antwortete Beckett auf die ihm durch Giorgio Strehler übermittelte (kritisch gemeinte) Frage Brechts, wo denn Wladimir und Estragon im Zweiten Weltkrieg gewesen seien, mit dem Bescheid: »In der Résistance.« Da schlägt Beckett einen genialen Haken: weil ihm jemand auf der Fährte war. Diese kleinformatigen 187 Seiten sind atemberaubend.
Jörg Drews: Ach so! Ein Franzose erklärt uns nun, worum es in Becketts „Warten auf Godot“ wirklich geht. Und nennt Gründe für die meisterhafte Geheimniskrämerei. In: SZ vom 17.11.2008. ZU: Pierre Temkine: Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte. Hg. von Denis Thouard und Tim Trzaskalik. Aus dem Französischen von Tim Trzaskalik. Berlin: Matthes & Seitz Verlag 2008. 187 Seiten, 14,80 EUR.