Aus Artmanns Anfängen
Jörg Drews
„Typoskript auf fleckigem und vergilbten Papier, von glatterer Qualität als Blatt 1. Ohne Änderungen bis auf die Streichung der letzten Zeile. Mit Tinte numeriert XIII“ — so heißt es in der achivarischen Anmerkung zu Artmanns Gedicht in Prosa „personaggi vom janitscharenmädchen“. Die Philologie hat ihn also eingeholt, den Schäfer Laertes, den Landgrafen von Camprodon, das in alle poetischen Masken schlüpfende literarische Unikum, das zwischen den Sprachstilen aller Sprachen, Zeiten und Gattungen wechselnde Chamäleon Hans Carl Artmann. Er begann mit „poetischen acten“, die per (Eigen-) Definition „materiell vollkommen wertlos“ sind und „deshalb von vornherein nie den bazillus der prostitution“ bergen; die „lautere Vollbringung ist schlechthin edel“, sollte auch „nur in der erinnerung aufgezeichnet sein“, wie Artmann 1953 in seiner „acht-punkte-proklamation des poetischen actes“ schrieb — und jetzt ruhen die poetischen actes gratuites also auf soliden Fußnoten.
Doch die frühen Prosagedichte, die der Band enthält, hatten ohnehin schon einen Kompromiß mit dem Bedürfnis nach Überlieferung geschlossen; in Widerspruch zu der klinisch reinen Idee des „poetischen actes“ waren sie gleich zu Beginn durch Sprache vermittelt und publiziert worden, in so mythisch verschollenen Organen wie dem Südwiener Blättchen Mödlinger Nachrichten zum Beispiel, dessen biedere Leser nicht schlecht gestaunt haben dürften über Prosastücke wie „Von einem Fernrohr“: „Sieben im Walde vergrabene leichnämer hatten sich zu einer zwanglosen gebeinschaft zusammengetan, dessen weg mehr aus zufall an ihren ungeweihten gräbern vorüberführte, einen neckischen schabernack spielen zu können. Da aber selten wer vorüberkam, wurden die lauernden freilich ein wenig von der langeweile geplagt, und in diesen zeiten pflegte der todälteste, welcher eine angenehme kastratenstimme besaß, den anderen altertümliche balladen vorzusingen, während ein zweiter das zymbal schlug …“
Die poetische Alchimie dieses Stückchens ist erkennbar: Da sind makabre Elemente, subtile Morbidität, pseudoaltfränkische Sprache und eine Prise Surrealismus. Und wie hier der Bezug auf mittelalterliche Totentanzpoesie im Hintergrund zu erkennen ist, so in anderen Stücken das Vorbild der „Greguerias“ des Spaniers Ramón Gómez de la Serna, der diese Gattung als „Haikus in Prosa“ definierte, oder der „Personaggi“, kleiner Personenporträts in Prosa, die man als frühe Vorläufer der Porträts ständischer Typen betrachten kann, wie sie Artmann dann in „Fleiß und Industrie“ vorführte. Es sind kleine, offene, fortsetzbare Prosastücke, voller kostbar und umsichtig inszenierter sprachlicher und bildlicher Nuancen, subtil, aber sozusagen „geschminkt“, gekonnt, aber „falsch“, voll von einer Melancholie, die reine Pose ist, ohne große Nebenabsichten hingeworfene Poesie, durch die aber doch die Eitelkeit des Autors blitzt, der 13 „Fantasmagorische Greguerias“ hinwirft, darunter Häppchen für literarische Gourmets wie dieses:
Die verschleierte eule der gerechtigkeit:
Eine silberhelle wunderampel, die tausend jahre im diebskasten der tyrannen schläft.
– und der nach solch zarten Bilder-Schocks am Ende einfach hinzufügt: „u. s. w.“ was man lesen muß als „Ich könnte noch unbegrenzt viele solcher poetischen Nasenstüber schreiben, aber da ich’s ja kann, wollen wir’s bei diesen Beispielen bewenden lassen“.
Philologische Anmerkungen zum Werk eines Lebenden hin oder her – wir sollten dankbar sein, daß wir nun auch die Anfänge des dichterischen Universums von H. C. Artmann kennen, wo mancher Effekt noch zarter und unverbrauchter war und manche Szene, manche Metaphern- und Bildergirlande nur umrissen und eröffnet wurde, wie ein Fenster oder eine Tür, durch die wir gleich Unerhörtestes sich begeben sehen werden.
Jörg Drews: Aus Artmanns Anfängen: H. C. Artmann: Das im Walde verlorene Totem. Prosadichtungen 1949—1953. Zeichnungen von Daniela Rustin, Nachwort von Hannes Schneider. Residenz Verlag Salzburg. 131 Seiten, 14,80 DM.
In: SZ Nr. 249 v. 17./I8.10.1970.