Jörg Drews: Heißenbüttels heitere Melancholie. Zu Helmut Heißenbüttel: „Textbuch 6“
Heißenbüttel hatte bei der Erstveröffentlichung seines Textes „quasiautobiographisch“ im Kursbuch 5 (Mai 1966) dem Gedicht ein Hölderlin-Zitat vorangestellt, zwei Zeilen eines Gedichts aus der Zeit von Hölderlins Umnachtung: „Der Ruhe Geist ist aber in den Stunden / der prächtigen Natur mit Tiefigkeit verbunden.“ Es ist bedauerlich, daß nun im „Textbuch 6“ das Gedicht ohne die Hölderlin-Zeilen erscheint, die doch dem aufmerksamen Leser einen guten Hinweis gaben auf die Art, wie Heißenbüttels Texte zu lesen sind. Die Mehrdeutigkeit der möglichen grammatischen Verbindungen in dem Hölderlin-Text – ist „der Ruhe Geist“ als „der Ruhegeist“ oder als „der Geist der Ruhe“ zu lesen? – ist „prächtigen Natur“ als Genitiv oder als Dativ zu nehmen und entsprechend zuzuordnen? – hat ihr Pendant in der syntaktischen Offenheit und Unabgeschlossenheit der Redeweise Heißenbüttels in „quasiautobiographisch“ und in den anderen Texten des Bandes. Die spezifische Ironie im Verhältnis des Heißenbüttel-Textes zu dem Hölderlin-Zitat lag außerdem aber darin, daß die generelle, scheinbar festumrissene Formulierung Hölderlins in sich rührend wirr ist, während Heißenbüttel solche Wirrnis der Sprache bewußt herstellt und seinerseits den Resümees, dem abschließenden „Spruch“, mißtraut.
Betrachtet man die Heißenbüttelsche Sprechweise in „Textbuch 6“ und behält dabei den Untertitel des Bandes, „neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“, im Gedächtnis, so scheint mir die weise Melancholie, eine Art von lächelnder Resignation als Grund für die Vorsicht des Autors gegenüber „eindeutigen“ und abschließenden Formulierungen zutage zu treten. Die verschiedenen Versuche, über sich selbst, über das Verhältnis des eigenen Ichs zur Welt, zur Vergangenheit, zur Erinnerung sich klar zu werden oder zumindest dessen Komplexität festzuhalten – denn solche Versuche stellen eigentlich die sieben Texte des Buches dar –, enden oft in der Mitte von Sätzen, in offenen Formulierungen oder mit Wendungen, die die Möglichkeit eines Weitersprechens, -denkens oder -sinnierens andeuten. Die grammatische Unabgeschlossenheit vieler Einzelsätze und die gedankliche Offenheit der ganzen Texte lassen diese Arbeiten Heißenbüttels wie Ausschnitte aus einem fortgehenden Selbstgespräch, wie tastende Versuche einer Benennung der Wirklichkeit, einer adäquaten Anordnung von Gedanken, Erfahrungspartikeln, Erinnerungsfetzen, Zitaten und Wahrnehmungen erscheinen, und wenn diese Versuche als „Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ aufgefasst werden sollen, so scheint Heißenbüttel mit leisem Humor anzudeuten, daß der Verstand nicht (oder nicht mehr) in der Lage ist, all die dauernd auf ihn einstürzenden Bilder, Erlebnisse und Informationen, die nach wie vor verwirrenden Unwägbarkeiten und Paradoxa der Existenz gleich auf einen Nenner zu bringen.
Die Art der monologue-interieur-ähnlichen Reihung, der Nebeneinander- und Gegeneinandersetzung von Wahrnehmungen und Formulierungen, die mehr registrierende, inventarisierende als schlüsseziehende oder Erkenntnisse bildhaft-symbolisch aussprechende Redeweise des Autors wäre dann der dichterische Reflex, das sprachliche Organisationsprinzip einer unabgeschlossenen, vielleicht nicht abschließbaren, in einem spezifischen Sinn „unsicheren“ Welterfahrung. Doch ist dies gegenüber einer sich „ründenen“ Erfahrung und gegenüber entsprechend geschlossenen poetischen Formen nicht als Manko zu werten und bedeutet auch keineswegs die Desavouierung des menschlichen Verstandes oder der poetischen Genauigkeit; der „Verzicht“ auf die herkömmlichen Arten der Überformung und der scheinbar so schlüssigen und eindeutigen Anordnung von Sprach- und Wirklichkeitsmaterial kann durchaus der adäquaten Darstellung von menschlichen Erfahrungen mit all ihren Unwägbarkeiten und unauflöslichen Widersprüchen dienen und seinerseits Wahrheit und Klarheit haben. In der Tat werden ja nicht alle unsere Erfahrungen gleich auf ihre Bedeutung transparent. Nur scheinbar also sind Textabläufe wie der folgende in der Anordnung des Wortmaterials beliebig; wer sich, immer wieder lesend, auf ihren Vorgang, auf ihren inneren Rhythmus einläßt, wird ihre Stringenz durchaus erkennen können:
rückentwickelt plötzlich mitten nach-
mittags weltabgewendet plötzlich mit-
ten oktobernachmittags weltabgewendet
plötzlich mitten sonnig oktobernach-
mittags weltabgewendet die Aktualität
ist komplett abgeblätterte Türbemalung
abgeblätterte Jahreszeit Wiesen von
Martial Raysse Ansichtskarten von
Martial Raysse echter gefälschter Rem-
brandt & indochinesische Pop-Art er-
kennbar an einer einzigen Drehung des
Weißlicht überm Tal Weißlichtsonne
blaue Sichtbarkeit blaugefärbt blaue
Das Zitat aus „quasiautobiographisch“ zeigt nicht nur die Art des sprachlichen Ablaufs der neuen Arbeiten Heißenbüttels, sondern ist auch ein Beispiel für den Umfang und die Natur der jeweils dreizehn Abschnitte, in die die sieben Texte des Bandes gegliedert sind, Abschnitte, die noch alte poetische Gliederungsformen durchscheinen lassen wie in ironischer, verschmitzt lächelnder Erinnerung an das frühere lyrische Organisations- und Sprachmengenprinzip der Strophe. Doch hat die Einteilung in Abschnitte, in „Mengen“ von ihrerseits wieder dreizehn Zeilen nun die Funktion, ein Verfließen und zugleich ein allzu widerstandslos fortlaufendes Lesen der Texte zu verhindern.
Im einzelnen variiert die Thematik der Texte vom Autobiographischen („quasiautobiographisch“) über die mehr assoziative als diskursive Meditation zu Aspekten der Ich-Objekt-Relation („über einen Satz von Sigmund Freud“) und die Faszination und Irritation durch eine kuriose Zeitungsmeldung („eine 45 Jahre alte Engländerin aus Birmingham“) bis zur elegischen Rekapitulation einer historischen Situation („Deutschland 1944“). Die restlichen drei Texte nehmen eine Sonderstellung ein: „vokabulär“ durch die andere, stärker nominalistische, die Fähigkeit der Sprache erprobende Art der Fortbewegung des Textes, der auf eine allgemeinere, nicht im lyrischen Ich zentrierte Weise Wirklichkeit oder Möglichkeiten von Wirklichkeit zu erfassen sucht, und die beiden Stücke „Menge mit aufgeprägter Metrik“ und „Abc-Ballade“, die mir qualitativ erheblich unter dem Niveau der übrigen Texte zu liegen scheinen, da sie eine recht beliebige, sozusagen mittelpunktlose Anwendung des Prinzips der assoziativ reihenden Sprechweise zeigen; sie zerflattern.
Insgesamt bieten die besseren Arbeiten im „Textbuch 6“ Beispiele für die Fortentwicklung der Form des dem Inneren Monolog verwandten längeren Gedichts, wie sie Heißenbüttel zum erstenmal in der großartigen Elegie „Gedicht von der Übung zu sterben“ demonstriert hat. Doch verglichen mit diesem mit Zitaten gespickten, fast pompös zu nennenden Gedicht scheint Heißenbüttel nun bescheidener, asketischer geworden zu sein. Wir finden nicht mehr die hintersinnigen Pointen der Stücke aus „Textbuch 5“, doch dafür eine – wenn dies Paradox erlaubt ist – heitere Melancholie, für die vielleicht der von Hölderlin gebrauchte Begriff der „Tiefigkeit“ am passendsten ist.
Ein Wort noch zu Format und Ausstattung der Textbücher“: Dankenswerterweise hat sich die äußere Erscheinung der Publikationen Heißenbüttels beim Wechsel vom Walter-Verlag zu Luchterhand nicht geändert; das große Format, die weite Blattfläche lassen beim Lesen Platz genug zum Nachdenken, zum Assoziieren, zum Meditieren.
Helmut Heißenbüttel: Textbuch 6. Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin 1967
Jörg Drews: Heißenbüttels heitere Melancholie. Zu Helmut Heißenbüttel: „Textbuch 6“. Erstabdruck: SZ, 16. November 1967. Wiederabgedruckt in: Luftgeister und Erdenschwere, S. 19 – 22.