Jörg Drews: Hier schießen die Wunder nur so ins Kraut. Gibt es das, eine Überdosis an Poesie? Marica Bodrozics neuer Erzählungsband „Der Windsammler”
Macht ein Autor es sich zum Schreibprogramm, zum Vorhaben, die Welt zu „poetisieren”, alles zu poetisieren, was als Handlung, Sujet, Schauplatz oder Gedanke in ein Buch hinein soll, handelt er sich ein Problem ein, das heißt: Wenn ich alles poetisiere, alles für poetisierbar halte, dann entsteht eventuell eine Gleichförmigkeit, die das Poetische penetrant und alternativlos macht und es
geradezu sabotiert. Obendrein: Das „Poetische” kann heute ja nicht ähnlich klingen dem Poetischen von – sagen wir einmal: 1800. Bin ich also als Autor bei einem Text aufs Poetisieren aus, was für eine Sprache wähle ich dann, die nicht einfach ins vage, traditionell Poetische hinübergleitet, ins – das ist ja dann oft die defensiv-offensive Vokabel – Märchenhafte?
Das Poetische in eben diesem Sinn scheint mir das Irritierende an fast allen der elf neuen Erzählungen von Marica Bodrozic zu sein, irritierend umso mehr, als sie eben dieses Poetische bisher noch nie so weit getrieben hat wie in den Erzählungen „Der Windsammler”. 2004 erhielt Marica Bodrozic den Heimito-von Doderer-Preis für ihr hinreißendes Debüt in der deutschen Literatur, den Erzählungsband „Tito ist tot”, worin sie die dalmatinische Landschaft, aus der sie stammt, aufs wärmste leuchten ließ, aus sehnsüchtigem Widerspruch zu der aber eben nicht wegästhetisierten jugoslawischen Realität. Und noch im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte sie eine Erzählung von ihrem Hineinwachsen, ihrem begeisterten Sich-Umtun in der deutschen Sprache, die sie ab ihrem zehnten Lebensjahr zu lernen begonnen hatte. Eine Erzählung? Es war zugleich ein übermütiges Stück Autobiographie und ein Hymnus auf das Glück, in der deutschen Sprache ein Heim, eine Heimat zu finden. Dieser Band „Sterne erben, Sterne färben” war nicht nur deshalb so bewegend, weil der Spracherwerb nicht linguistisch, vielmehr, wie es einer Dichterin geziemt, poetisch geschildert wird, sondern weil unversehens unserer Sprache die Ehre einer Zuneigung, ja Liebe angetan wurde. (Süddeutsche Zeitung vom 20. Juni 2007.) Marica Bodrozics Buch sollte ein Standardwerk sein als Antwort auf die Fragen a): Warum sollte man Deutsch lernen?, und b): Ist die deutsche Sprache schön?
Warum ist man dann aber so verstört bei der Lektüre der neuen Erzählungen? Man lese das Folgende: „Happahs Mantel hat Musik gemacht, die ich nicht hören, aber spüren konnte, also wäre es richtiger zu sagen, ich hatte eine Ahnung von dieser Musik, denn sie sprach zu mir in ihrer eigenen Sprache. Mir ging dieses tanzende Leinen nicht mehr aus dem Sinn, die ganzen Stunden danach, Tage im Grunde, sah ich es vor mir und das Innere dieser Sprache machte in mir eine Welle, die sich im Uhrzeigersinn drehte, so, als seien mir im Lungenbereich neuartige Zeiger installiert worden, vom Südwind, der bloßen Luft oder von wem auch immer.”
Die Blume der Träume
Eine Behauptung, eine bildliche Setzung hätte genügt, doch dann wird unnötig übergenau gesprochen, zu übertreffen gesucht, korrigiert, und schließlich alle poetisch-bildliche Erklärung in ein „von wem auch immer” wieder verflüchtigt. Dabei hat gerade diese Geschichte, „Die Wiederkehr des Esels” – von einem Hirten, der im Zorn seinen Esel erschlug, sich aus Scham selbst umbrachte, noch einmal auf die Erde zurückdarf, um zu bedenken, was denn der „freie Wille” sei – einen intensiven, nicht zu weit gespannten Bogen und mit 16 Seiten eine große erzählerische Ökonomie, aber die angeführte Stelle zeigt die Gefahr einer Verkettung von Bildern, die am Ende eher schwach werden.
Wenn jedes Partikel gleich vom Konkreten ins Poetische, ins Bild, ins Gleichnis, in den Begriff, in leicht paradoxe oder surreale Metaphern gehoben wird, machen sich beim Leser Ermüdungserscheinungen breit, wenn die aus der Lyrik der fünfziger Jahre bekannten Genitiv-Konstruktionen wie „die Werkstatt der Wolken”, die „Blume der Träume” sich häufen; dann gibt es halt die „Windsammler” und die „Brustlaterne” und den „Bildinspektor”, jene Sorte von Poesie also, die zu nichts verpflichtet, weil der Leser, bitt’schön, doch nicht so banausisch sein sollte, die Stimmigkeit, die innere Logik solch Poesien auch noch zu überprüfen und ein Übermaß davon zurückzuweisen.
Aber was soll man machen, wenn es etwa heißt: „Er lebt in keinem Luftschloss, das nicht, sagte die vertraute Stimme, aber er lebt mit verknüpften Sinnen. Die Forscher betrachten täglich ihre Tabellen. Man gab sich Zettel in die Hände, schaute zum Plafond, es wurden Entscheidungen getroffen. Verknüpfte Sinne, das kannten sie nicht. Heilanstalt war das Wort, das die Forscher erst leise, dann mit Nachdruck, wie zur Selbstversicherung aussprachen. Wie alle Wörter, die einmal ausgesprochen sind, entwickelte das Wort seine Wirkung und forderte, eingelöst zu werden. Wörter sind Zauberkundige. Wörter sind Stellvertreter des Menschen.” Marica Bodrozic liefert selbst die Belege dafür, dass es auch eine schöne und durchaus poetische Lakonik gibt, über die sie selbst verfügt, etwa wenn sie die Erzählung „Die Meeresseite der Orange” schließt: „Das ging jedenfalls dem Mann durch den Kopf, der die Meeresseite der Orange zärtlich küsste, bevor er die Frucht aufaß, das Schiff nahm und nach Hause zurückkehrte.” Der Mann war einige Tage auf einer Insel umhergestreift, auf der sich eine Art KZ, eines von Titos KZs, befunden hatte, in dem sein Vater umkam. Undeutlich, aber massiv taucht da harte geschichtliche Realität auf, belastet und gedämpft durch die Unmöglichkeit, genau zu eruieren, was sich abgespielt hat, und doch endet das freudig resolut voll Hoffnung. Dies ist eine der schönsten Erzählungen des Bandes, weil hier nicht immer alles irgendwie „wunderbar” sein darf. Jugoslawien war, von den Nazis bis vor kurzem, so hart und dicht gefüllt von blutiger, realer Gegenständlichkeit, dass eine endlose Re-Poetisierung gar nicht möglich, das zu Erzählende gar nicht komplett abkoppelbar ist von böser Geschichte und hässlicher Realität. Das gar nicht so entfernte Beispiel Handke schreckt auch hier. „Wunderbares” taucht ja immer in der Literatur am überzeugendsten auf an Stellen, wo unerwartet Wunderbares in einem Umschlag aus dem Faktisch-Banalen hervorspringt, nicht da, wo eine grenzenlose Lizenz zum Märchenhaften gegeben ist oder eine ganze Landschaft, ein ganzer Menschenschlag geheiligt wird.
Marica Bodrozic hat sich in diesem „Windsammler” die Freiheit genommen, sich fast ganz von nüchternen Realitäten abzukoppeln. Doch das poetische Feuer entflammt gerade dann, wenn das Erzählen sich am unpoetisch Realen entzündet; wenn der Widerpart fehlt, an dem sich das Erzählte reiben kann, gerät das Erzählen leicht ins verblasen Poetische, unverbindlich Schwärmerische, ja unter eine Art Allegorieverdacht.
Auf den letzten Seiten von „Sterne erben, Sterne färben”, dem Buch von Marica Bodrozics „Ankunft in Wörtern”, und das heißt dann: in deutschen Worten, ist zu lesen, es gebe einen noch unveröffentlichten Roman der Autorin, „Das Gedächtnis der Libellen”. Selten hat mich eine Ankündigung so gespannt gemacht!
Jörg Drews: Gibt es das: Eine Überdosis an Poesie? Zu Marica Bodrozics neuen Erzählungen. In: Süddeutsche Zeitung, 20.11.2007. (Zu: Marica Bodrozic: Der Windsammler. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007).