Jörg Drews: Im Fleisch des Brustkorbs / Stak ein Medaillon. Neue Gedichte von Günter Herburger
Den Kuss im Titel dieses Buchs möchte man nicht bekommen, er schmeckt böse wie der von Spiderwoman, ist vielleicht tödlich oder doch von Tod gesättigt: man küsst zurück und wird von einem Schnabel gehackt. Davon, dass in der Welt nichts versöhnlich ist oder endet, wird nicht viel Aufhebens gemacht, das ist eher unpathetisch selbstverständlich. Günter Herburger hat sich einen ganz spezifischen Ton geschaffen für sein durchtriebenes Registrieren, für Ratlosigkeit als Grundbeschaffenheit der Welt. Metaphysische oder gebildete Weinerlichkeit kommt nicht auf, weder Mitleid noch Selbstmitleid ist zu hören, beunruhigend ruhig taucht ein aschfahles Genrebildchen nach dem andern vor dem Leser auf: das Gedicht als variable Konstante greller Bilder oder Szenen, das Lyrische als cool-ausgepichte mörderische Groteske.
Viele der Poeme lassen im Hintergrund eine Zeitungsmeldung ahnen – aber warum nicht, bei Kleist oder Hebel ist es nicht viel anders, und Herburger geht noch kürzer und beunruhigender von verstörenden Anekdoten und freakigen Katastrophen aus, denen nur wahrhaft ‚prosaische’ Gedichte abzugewinnen, sind, „vers libres“ im wahrsten Sinne: beängstigend losgelassen, von keiner Stiftung sog. ‚Sinnes’ mehr in Zaum gehalten. In der Vereinigung des Heterogenen steckt aber auch nicht jene ja doch fast versöhnende Poesie vieler surrealistischer Texte und Bilder: Heiterkeit und reine Wunderbarkeit als Stimmung kommt hier gar nicht in Frage, Süßlichkeit, Nettigkeit gibt es hier nicht. Herburger lässt Kuhherden in eine Stampede ausbrechen und zerstörerische Wanderungen antreten, marodierende Tiger die Welt zerfetzen und präsentiert ohne die Stimme zu heben die letzten Taten von bagwomen und Selbstmördern: Lebensläufe als versteckte oder offene Amokläufe, einzelne Szenen als reißende Unglücke, mörderische Runs, die nur den Tod als Beruhigung kennen. Die Zeiten werden zueinander durchlässig: Lesen wir hier von der Vorzeit, der Barbarei oder dem Sklavenschicksal indischer Teepflückerinnen bis in die Gegenwart? Einmal ist Hölderlin anwesend, nicht als Trost, sondern als einer, der das Höchste gedacht’ und daran zerbrochen ist; vielleicht ist „Über die Blödigkeit“ doch das schönste Gedicht des Bandes.
Es gibt einige wenige Stilbrüche ins Feierliche, aber das ist nicht Herburgers bestes Ding, gewandte, unirritierbare Unbarmherzigkeit, bei der Trauer durchschwingt, steht ihm viel besser und sagt ja wohl auch mehr über den Zustand der Welt, auf die sich die meisten von uns – seien wir ehrlich – wahrhaft‚ ‚keinen Vers mehr machen können’: das nimmt Herburger ernst und macht deshalb auch keine ‚schönen’ Verse. Aber seine unheimlichen Genrebildchen und angsterregenden Kürzestszenen sind eben doch ernster zu nehmen als jedes gepflegte lyrische Gesäusel. Er gibt nicht auf.
Drews, Jörg: „Rasender Tiger“. In: Süddeutsche Zeitung, 12. 8. 2008. (Zu: „Der Kuss“. Gedichte. A 1 Verlag, München 2008). (Manuskriptfassung)