Jörg Drews: In fernen Guten. Zu Galsan Tschinag: Das Menschenwild
Sie heißt Hünej und ist eine eigenwillige, frühreife Nomadin im Altai. Also rennt sie mit einem ein wenig „dummkühnen“ ihres Stammes namens Dünej weg vom Clan, wird aber zur Beute eines Schneemenschen, eines grunzenden Wolfsmenschen, und zu dessen Gefangener und Kebse für ein paar Jahre. Aus Todesangst wird nach und nach Überlebenskalkül und dann so etwas wie Zutrauen zu diesem nur halb sich artikulierenden Wesen, das vielleicht „Karaj“ heißt oder doch von ihr so genannt wird.
Erzähltechnisch und sprachlich hängt bei diesem Kleinepos in Prosa natürlich alles daran, ob der Autor imstande ist, sich eine Erzählsprache auszudenken, in der dieser unerhörte Kurzroman nicht nach bizarrem Exotismus klingt und auch nicht süßlich tierisch.
Galsan Tschinag, eine Tuwa-Mongole des Jahrgangs 1944, der seit seinem 18. Lebensjahr im Rahmen der deutschen-mongolischen sozialistischen Völkerfreundschaft in Leipzig Deutsch lernte und es sich so staunenswert aneignete, dass er mit Recht beschließen konnte, ein deutscher Autor zu werden, erfindet sich ein Deutsch, das es vorher nicht gab, ein sozusagen leicht dezentriertes, ganz deutsches und leicht ‚verschoben’ wirkendes Deutsch, entfernt getönt von einer Erzählsprache, die eben nicht aus unseren Gauen stammt und dennoch nicht ‚fremdsprachig’ klingt.
Die Geschichte vom Leben einer Nomadenfrau mit einem Yeti (sozusagen) ist ganz unglaublich und – in einem nicht-psychologischen, früh-geschichtlichen Rahmen – ganz glaubhaft zugleich; man hat gar keine Lust zu zweifeln an dieser grausamen und dezenten Erzählung aus der Perspektive der jungen Mongolenfrau, die mit allen Sinnen und ganz entschieden mit diesem heftigen und auch zu Zärtlichkeit fähigen, sprachlich nur begrenzt ausdrucksfähigen Biest, Monster und Altai-Kingkong namens Karaj zusammenlebt, von ihm verteidigt wird, von ihm ein Kind empfängt und die Sehnsucht nach der Rückkehr zu Menschen doch nicht aufgeben kann. Am Ende lebt sie wieder bei ihrem Clan, aber als erneut Fremde. Sie kann nicht mehr sein wie vorher: Karaj war eben ihr Mann geworden, sie hatten sich mit Namen angesprochen und hatten so einander „doch auf einem näheren, innigeren Weg“ erreichen können. Das sind bedächtig-ironisch getönte 100 Seiten aus den Höhenregionen des Altai, und der Zeitpunkt, an dem das spielt, ist irritierenderweise das 20. Jahrhundert. Ein Märchen also, ein folk-tale? Nein, eigentlich eher so was wie eine realistische Erzählung, die über ihren eigenen Anachronismus staunt – der Genuß bei der Lektüre steckt zum großen Teil gerade darin, über die Gattung dieser Geschichte zu grübeln. So wünschen wir uns die Fortsetzung der alten Insel Bücherei, wovon dies die Nr. 1302 ist. –
Der Autor hat übrigens eben den Literaturpreis der deutschen Wirtschaft bekommen; im Herbst erscheint seine Autobiographie.
Drews, Jörg: „In fernen Juten“. In: Süddeutsche Zeitung, 22. 9. 2008. Zu: Galsan Tschinag: Das Menschenwild. Eine Erzählung des dem Altai. Insel Verlag, Frankfurt/Main und Leipzig 2008. (Manuskriptfassung)