Jörg Drews: Fratz, Racker, Kind, Mädchen, Lady. Mechtilde Lichnowskys Roman 'Kindheit' ist wiederzuentdecken.
1957 besuchte der deutsche Schriftsteller Werner Kraft die 78jährige Fürstin Lichnowsky in London, wo sie die letzten dreizehn Jahre ihres Lebens verbrachte. „Eine Greisin, herrlich anzuschauen, mit den Augen der Schönheit einst und jetzt“, habe er gefunden, so schreibt er hingerissen, und man kann daran ermessen, wie zauberhaft als Frau und wie eindrucksvoll als Intellektuelle und Künstlerin die Fürstin Lichnowsky einst in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts gewirkt haben muß.
Hermann Graf Keyerserling und Heinrich Mann verehrten sie, Karl Kraus huldigte ihr in zwei Gedichten, ihr, die Couplets von Nestroy vertonte, welche Kraus bei seinen Vortragsabenden rezitierte, und mögen auch ihre Romane Geburt (1921) und Delaïde (1935) uns wegen eines bisweilen schlecht-expressionistisch überspannten Stils und einer Befangenheit in den Problemen von Adelskreisen nicht mehr zusagen, so sind doch ihre Kindheitserinnerungen und die beiden Essay-Bände Der Kampf mit dem Fachmann (1924) und Worte über Wörter(1948) noch immer höchst lesenswert. Während man diese Bücher auf dem Antiquariatsmarkt suchen muß, ist nun aber dankenswerterweise Kindheit wieder neu verlegt worden, im selben Verlagshaus, wo der autobiographische Roman 1934 erstmals und mit ziemlichem Erfolg erschienen war, bei Fischer nämlich.
Kindheit gehört zu den herausragenden Beispielen deutscher Autobiographien in diesem Jahrhundert, und was einen besticht und geradezu schmelzen läßt, ist die Fähigkeit der Fürstin Lichnowsky, sich so intim und zärtlich in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer selbst als eines Kindes zurückzuversetzen, daß man das schrankenlose Glück einer Kindheit und die schrankenlose Glücksfähigkeit eines Kindes zu spüren glaubt. Was uns hier aus der Perspektive und aus dem Bewußtsein einer Vier-, Sechs-, Vierzehn- und endlich Siebzehnjährigen gegeben wird, ist keine Ich-Erzählung; Mechtilde Lichnowsky hielt es mit feinem Gespür für diskreter, höflicher, taktvoller und weniger massiv, zwar aus ihrer eigenen erinnerten Bewußtseinsperspektive zu erzählen, aber grammatisch in der dritten Person Singular zu bleiben und sich spielerisch distanziert, sich selbst zugleich auch von außen betrachtend, als ‚Christiane‘ einzuführen, als ein Wesen, dem sie alles Entscheidende von sich mitgeben konnte, ohne aufs Bekennerische verpflichtet zu sein, aufs dauernde ‚Ich‘- Sagen und auf familiengeschichtliche Daten und so weiter.
Neun Kinder hatte das Ehepaar von und zu Arco-Zinneberg, und in diesem „Wurf Katzen“, wie sie vergnügt und spöttisch sagt, wuchs Christiane / Mechtilde auf, offenbar ausnehmend glücklich, mit französischer und englischer Gouvernante und doch als ‚Fratz‘ und ‚Racker‘ in ländlicher Umgebung, immer von Tieren und wuselnden Kindern umgeben. „,Fratz‘ war nicht schlimm; man war nun einmal ein Fratz; aber es ist nicht angenehm, täglich daran erinnert zu werden‘ – in solchen Sätzen zeigt sich, wie Christiane nicht überempfindlich, aber doch ein bißchen kapriziös zu reagieren und ihre Sensibilitäten auszubilden beginnt.
Wie ein Kind die Blumen aus dem Vorhang schneidet, weil es nachmittags bei Zwangsbettruhe nicht schlafen kann; wie ein sechsjähriges Mädchen ein Pferd führen soll, was zu einem herzerweichend unfairen Kräftemessen und natürlich zu dem inständigen Versuch und Wunsch führt, das Pferd diese Schwäche doch nicht merken zu lassen; wie zwei kleine Mädchen sich in einen Erwachsenen verlieben; wie man eine Mutter begeistert lieben und einen Vater als Allmächtigen so phantastisch erleben kann, daß man zu ihm als einem Alleskönner und Allesheiler hingebend aufschaut – dies steht in Mechtilde Lichnowskys Buch so entzückend da, weil sie diese wunderbare Kindheit erlebte und der phantasierende, kreative Kern ihrer Seele erhalten wurde und also hier ein Mensch offenbar ausbilden durfte, was in ihm angelegt war.
Als Christiane 13 Jahre alt ist, folgen vier Jahre in einem feinen Internat für höhere Töchter, hingestellt auf 80 Seiten mit den subtilsten (und lustigsten) Studien zu Klosterfrauen, die aus religiösen, musikalischen und generell spätpubertären Gründen von den Schülerinnen zartest angehimmelt werden, und dann endet das Buch mit ein paar – von der Erzählerin rückblickend liebevoll ironisierten –‚Hieroglyphen‘, quasi-künstlerischen Stücken durchaus bemerkenswerter Kurzprosa, in denen die Siebzehnjährige nach konzentriertem und ,höherem‘ Ausdruck ihrer selbst tastet.
Damit schließt das Buch, und die Welt öffnet sich: Christiane wird „in die Welt geführt“, nachdem Jahre der Einschränkung im Internat hinter ihr liegen: „. . . die Grenzen und Verbote lagen wie ein engmaschiges Gitter über ihrer Leibhaftigkeit, und fast jeder Anlauf endete an einer unüberspringbaren Wand, was nicht hinderte, daß ihre Augen Schönheit sahen, im Gegenteil; gerade weil die persönliche Freiheit fehlte, verfeinerte sich bei Henriette, Christiane und Michael ein Kunstgewissen, das sie geheimnisvoll lebendig erhielt, dem in privatester Weise gedient und worüber nie gesprochen wurde, aus Scheu vor dem Wort Sentimentalität und vor Bemerkungen zu Dingen, die keine vertrugen.“
Mechtilde Lichnowskys Kindheit ist das nicht so radikal sich gebärdende, unauffällige, fast zärtliche Gegenstück zu James Joyces schrofferem, seine Neuheit in der Bewußtseinsdarstellung viel schärfer hervorkehrendem Bildnis des Künstlers als junger Mann. Doch es ist vom selben Rang. Ein Meisterwerk wartet auf seine glückspendende Wiederentdeckung durch Leser.
MECHTILDE LICHNOWSKY: Kindheit. Roman. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 1996. 192 Seiten. 14,90 Mark.
Jörg Drews: Fratz, Racker, Kind, Mädchen, Lady. Mechtilde Lichnowskys Roman ‚Kindheit‘ ist wiederzuentdecken. In: SZ, 13.1.1996