Jörg Drews: Nachwort. Zu „Dichter beschimpfen Dichter. Ein Alphabet harter Urteile."
Natürlich stimmt die Stilisierung der Zitate, die wir gesammelt haben, unter den Begriff »Beschimpfungen« nicht ganz. Was die Poeten und Schriftsteller da übereinander vorbringen, und untereinander austragen, ist mehr und anderes als nur willkürliche Beschimpfung, jedenfalls in den meisten Fällen. Doch schon die Lust, solche Attacken zu sammeln, in der Lektüre quer durch die Jahre immer solche Invektiven zu notieren, hängt auch mit der Lust zusammen, daß da endlich einmal subtil boshaft und ziemlich oder ganz unsublimiert die Dichter aufeinander losschlagen und man selbst als Leser händereibend-voyeuristisch dabei sein darf. Ein Fest ist die – manchmal feierliche, manchmal kalkuliert formlose – Durchbrechung eines Verbots, sagt Freud, und hier, in den Beschimpfungen der Dichter durch die Dichter, wird das Tabu des Feinsinns als Inbegriff der Sublimation öffentlich bzw. halb öffentlich gerade von denen durchbrochen, die wie Inbegriffe der Vergeistigung sich öffentlich aufzuführen haben, da sie ja immer noch – ‚irgendwie’ – fürs Gute, Schöne und Wahre stehen; eigentlich dürfen sie sich jedenfalls nicht so selbstverständlich gemein, verlogen und rücksichtslos aufführen wie etwa Politiker, von denen wir es per Beruf und Begriff schon gar nicht mehr anders erwarten. Aggressivität aber erscheint nirgends voraussetzungslos, taucht auch kaum je total isoliert und begründungslos auf, und selbst wenn der Spaß an den bis zur Gemeinheit reichenden Boshaftigkeiten als Ingredienz bei der Lektüre der Sammlung von Dichterbeschimpfungen nicht weg zudenken ist – Dichter beschimpfen Dichter. Ein Schlachtfest – und als Pfeffer an dieser Mahlzeit auch unbedingt nötig, so wird man doch nach einiger Zeit des Sammelns nachdenklich. Erstens verrät diese Aggressivität, der Generalnenner für viele der gesammelten Sätze, offenbar grundsätzlich etwas über Produktionsbedingungen der Schriftsteller, über psychologische Konditionen, über die (wenn man’s ganz hochgestochen haben will) kreativitätspsychologischen Voraussetzungen der Autoren. Zweitens ist kaum eine der Beschimpfungen nur ein willkürliches Aus-der-Rolle-Fallen oder Ausdruck puren Neids und die reine Ungerechtigkeit; zieht man ein Element des Groben und Überdrehten ab, so sind fast alle der Attacken auch lesbar als Bausteine für eine literaturkritische Position, als literarästhetisches Argument.
»Denn es läßt der Gott nicht zu, daß ein anderer außer ihm sich für groß erachte« – was Herodot in den Historien (VII, 10) über die Rivalitäten der Götter sagt, gilt, wie uns Harold Bloom auf den ersten 20 Seiten von »Anxiety of Influence« (1973) gezeigt hat, auch für die Poeten untereinander. Zuzugeben, daß früher lebende oder mitlebende Autoren auch Großes geleistet haben, etwa gar Großes, von dem man gelernt hat, bringt offenbar der Narzißmus der Poeten kaum über sich; man gibt oder gäbe ja damit zu, daß man nicht alles aus sich selbst schöpfte, sondern von der Schönheit anderer borgte, auf den Schultern anderer steht, und das vermindert die Zuneigung oder das Recht auf die Zuneigung der Leser, von der man doch möglichst viel auf sich zu vereinigen hofft. Umgedreht und ins scheinbar Absurde weitergetrieben steckt dieser Sachverhalt in der Formulierung Walter Kempowskis, der gerade in seinem Tagebuch »Sirius« (1990) besonders offen und im Ton unterspielt etwas von jener nicht enden wollenden Ranküne, von jener ewigen Konkurrenz verrät, die ihm unablässig durchs Gemüte zieht und keinen Autor – insbesondere bei Musterung derjenigen seiner Zeitgenossen, die ihm gefährlich werden könnten im Kampf um die Publikumsgunst – auch nur eine Sekunde verläßt: »Ich verstehe es absolut nicht, daß es Menschen gibt, die mich nicht mögen.« Sprich: … daß es Menschen gibt, die andere Schriftsteller lieben und daher die bodenlose Frechheit besitzen, mir nicht hundertprozentig ihre Zuneigung zu schenken, ja eventuell gar nichts von ihrer Zuneigung abzugeben. Als hätte er ein Lehrbuch über ‚positive thinking’ gelesen, formuliert es Paul Scheerbart; menschenfreundlich und zuversichtlich klingt es, wenn er 1897 in einem Brief an Otto Julius Bierbaum schreibt: »Es wird, glaub ich, immer Dichter geben – die sich sympathisch sind«. Man kann da aber Scheerbarts Überraschung heraushören darüber, daß es doch auch Dichter gibt, die sich sympathisch sind; denn die Regel ist das offenbar nicht, und das wußte auch der gute Paulemann. Das schöne Bild vom Pantheon, vom Dichterolymp, von der Ruhmeshalle täuscht; »Poets‘ Corner« in der Westminster Cathedral scheint nur befriedet zu einem feierlichen Nebeneinander, weil alle Bewohner tot sind; wie’s wirklich zugeht, zeigen eher die Ereignisse auf der IRAS-Insel, der schwimmenden „Egghead Republic“, wie sie Charles Henry Winer im Jahr 2008 in Arno Schmidts Roman »Die Gelehrtenrepublik« (1957) besucht hat bzw. besuchen wird. Meist gönnen die Poeten einander weder den Erfolg noch den Ruhm, weder die Honorare noch die Liebe des Publikums, oder doch nur dann, wenn sie sicher sind, daß sie selbst davon mehr abgekriegt haben als der in Frage stehende andere oder wenn dieser schon tot ist – doch wie gesagt, selbst da leugnen sie am liebsten noch oder spielen bis zur eiskalten Verleugnung herunter, was sie toten Kollegen verdanken. »Ein Gedicht ist der Feind des andern«, hatte Brecht erkannt; »Ein Baum erstickt ja auch den andern«, notierte Georg Christoph Lichtenberg lateinisch in seinem 1992 edierten Notizbuch »Noctes«. Objektiver formulierte das Problem Theodor W. Adorno in seiner Bemerkung, daß das Bild vom friedlichen Nebeneinander der großen Werke ja auch an deren Wahrheits- und Erkenntnisanspruch frevle: in dem Moment, da Kunst noch mit Bezug auf Wahrheit gedacht werde, könnten nicht zwei Kunstwerke friedlich nebeneinander existieren, die jeweils ganz anders zu ihrer Epoche stünden, einen ganz anderen Begriff von ihr enthielten bzw. behaupteten; Friede herrsche nur unter der Voraussetzung nicht nur von Toleranz, sondern von Relativismus. Wenn literarische Stile, Intentionen, Werke noch ernsthaft etwas wollen, muß zwischen ihnen Krieg walten; Pluralismus herrscht höchstens nolens volens auf dem Markt, und die Autoren müssen sich damit abfinden. Im Bewusstsein der Dichter aber gibt es keine friedliche Koexistenz der Dichtarten; da schließt eine Dichtungskonzeption die andere absolut aus, und jene persönlichen Sympathien, von denen Scheerbart oben spricht und die es natürlich bisweilen auch gibt, bringen höchstens so etwas wie einen begrenzten Waffenstillstand.
Und das nicht, weil Künstler noch schlechtere Menschen wären als die anderen Menschen, die ja schon schlecht genug sind. Sondern die Dichter und Schriftsteller brauchen wohl die möglichst ungestörte Überzeugung, eigentlich ganz alleine was zu taugen, um sich nicht aufs schwerste in Zweifel gestürzt und in ihrer Produktion beeinträchtigt zu sehen. Literarische Kreativität ist offenbar eine immer gefährdete Sache oder doch eine, von der ein Autor immer denkt, sie sei gefährdet, könne versiegen, müsse gepäppelt werden – man betrachte sich nur die geradezu tickhaften Zurüstungen, die magischen Rituale, die abergläubischen Umstände, die die meisten Autoren arrangieren, um günstige Produktivitätsumstände herzustellen. Ich kenne nur ganz wenige Autoren, die fröhlich schreiben; für die Haltung der meisten mag der so ehrliche wie unehrliche Satz Arno Schmidts stehen, lieber würde er sein Leben lang Scheiße schippen als schreiben. Und dennoch hat er immer bloß geschrieben, kann man spöttisch und obenhin dies seufzende Bekenntnis kommentieren, doch weil der Akt des Schreibens meist als ein so schmerzhafter, auch ambivalenter, körperlich keineswegs nur lustvoller Akt erfahren wird, darf er nicht zur Quantité négligeable erklärt und muß er durch Abwertung anderer Werke aufgewertet, gerechtfertigt, glorifiziert werden. Nochmals Arno Schmidt klarsichtig über Kollegenschelten: »Es geht im Grunde doch lediglich darum, sich selbst in jenen Zustand schöpferischer Arroganz zu versetzen, ohne den nichts Namhaftes gelingen kann.«
Im übrigen können wir alle nur wenig Tadel vertragen, aber unendlich viel Lob, und wenn wir jemand loben, der zugleich von einem anderen gelobt wird, der unser Konkurrent ist, so wird das Lob gleich gestrichen: Da wird blitzschnell aus einem Freund der Freund meines Feindes, und der kann nur mein Feind sein, bestenfalls eine Nicht-Person, wie der Verlauf einer Begegnung Elias Canettis mit Robert Musil in den dreißiger Jahren nach der Veröffentlichung von Canettis »Autodafé« zeigt: »Musil streckte mir die Hand entgegen, er lächelte nicht bloß, er strahlte, das fiel mir schon darum auf, weil ich der Überzeugung war, daß er sich ein öffentliches Strahlen nie erlaube. Er sagte: ‚Ich gratuliere Ihnen zu ihrem großen Erfolg!’ Er habe erst einen Teil des Romans gelesen, aber wenn es so gut weiterginge, verdiente ich diesen Erfolg. Von diesem Wort ‚verdient’ aus seinem Mund war ich wie berauscht. Er sagte noch einiges sehr Positive dazu, das ich nicht wiederholen möchte, denn so wie die Dinge weitergingen, hätte er es später vielleicht zurückgezogen. Über diesen Worten verlor ich den Verstand. Ich spürte plötzlich, wie sehr ich auf sein Urteil gewartet hatte, vielleicht nicht weniger als auf das von Sonne. Ich war berauscht und verwirrt, sehr verwirrt muß ich gewesen sein, denn wie hätte ich sonst den peinlichsten Taktfehler begehen können?
Ich hörte ihn zu Ende an und sagte dann gleich: ‚Und stellen Sie sich vor, ich habe einen langen Brief von Thomas Mann bekommen!’ Er veränderte sich blitzrasch, es war, als hätte er einen Sprung in sich zurück getan, sein Gesicht wurde grau und er war nur noch Schale. ‚So’, sagte er, streckte mir die Hand halb hin, so daß ich nur die Finger zu fassen bekam und wandte sich brüsk ab.
Damit war ich verabschiedet. Damit war ich für immer verabschiedet. Er war ein Meister der Distanz, er hatte darin Übung, wen er einmal verworfen hatte, der blieb verworfen. Wenn ich ihn unter Menschen sah, was im Laufe der nächsten zwei Jahre manchmal vorkam, richtete er nicht das Wort an mich, blieb aber höflich. Er ließ sich nicht mehr auf ein Gespräch mit mir ein. Wenn in Gesellschaft mein Name fiel, schwieg er, als wisse er nicht, von wem die Rede sei und habe keine Lust, darüber Erklärungen einzuholen.«
Tendenziell sind die hier gesammelten Beschimpfungen ihrem Duktus nach weniger argumentativ als vielmehr auf die giftige bis deftige Pointe hin formuliert; sie sprechen mit beifallheischender Apodiktik, sind darauf aus, als scharfzüngige Häme Schadenfreude zu mobilisieren: such is human nature. Oder, wie Dr. Samuel Johnson kalt, pompös und scharfsichtig statuiert: »Pity is not natural to man.« Das ist keine Denunziation des Mitgefühls, sondern macht nur darauf aufmerksam, daß das Erlernen von Mitleid, Mitgefühl, ‚compassion’, eine Kulturleistung ist, die immer gefährdet bleibt. Und da wir alle und gerade auch die Dichter nicht ewig edel, hilfreich und gut sein können und obendrein ein Quantum an Aggressivität Voraussetzung kulturschöpferischer Leistung ist, haben die Beschimpfungen anderer Autoren und unsere Lese-Lust daran auch etwas Psychohygienisches, die Funktion der Triebabfuhr auf vergleichsweise harmlose Art. Zugleich sind die meisten der Attacken, Gifteleien, Herabsetzungen und Ablehnungen keineswegs halt- und bodenlos. Mag der ganze Literaturzirkus durch die Zeiten hindurch – und keineswegs nur der gegenwärtige sogenannte Literaturbetrieb – sich oft auch wie ein großes Freigehege ausnehmen, in dem jede Krähe ungefähr jeder anderen Krähe in aller Öffentlichkeit (und sei es zunächst auch nur in der Heimlichkeit eines Briefes, mit dessen Veröffentlichung bzw. Weitertratschung man aber doch rechnen darf) ein Auge aushackt – was den Kasus kompliziert macht, ist, daß die Rivalität der Dichter um die richtige Poesie und ihre Konkurrenz um die Liebe der Welt – sprich: des Publikums – durch die Zeiten hindurch und möglichst mit dem Fernziel der Unsterblichkeit kaum je nackt, sondern fast immer nur legiert und amalgamiert erscheint mit intellektuellen und moralischen Argumenten; die sekundären Rationalisierungen für ihre primären Ausfälle, Hiebe und Tritte gegen die Kollegen in Apoll fallen den Dichtern, Schriftstellern und Literaten schon ein, sonst würden sie gar zu peinlich offen als Neidhammel dastehen. Somit aber haben die Beschimpfungen der Dichter durch die Dichter fast immer auch eine ‚objektive’ Seite, wo sie, durch die Boshaftigkeiten und die aggressiven, schneidenden Verletzungen hindurch, eben auch Bausteine zum Entwurf der jeweiligen Poetik und Kunstauffassung des Schimpfenden sind. Fast alle der vorstehend versammelten Beschimpfungen sind explizierbar als – sei’s noch so verdeckte, von übelster Neigung zur Ehrabschneiderei überlagerte – Beiträge zu literaturtheoretischer Argumentation und Bruchstücke einer möglichen Ästhetik.
Es ist vielleicht gar nicht besonders fruchtbar, die kritischen Aussprüche der Poeten übereinander zu psychologisieren; man sollte sie vielleicht eher ernstnehmen und sich gewissermaßen ihren argumentativen, konzeptuellen Kern klarmachen oder sie doch zumindest als Akte der Ungerechtigkeit, aber eben der »ausgleichenden Ungerechtigkeit« (Arno Schmidt) zu sehen versuchen. Man nehme etwa Grillparzer, Hebbel und Gerhart Hauptmann, diese in jeder deutschen Literaturgeschichte bis vor kurzem prominenten, in Wirklichkeit doch eher mediokren Gestalten, durchweg leisetreterisch, grobschlächtig, frömmelnd, klein-deutsch, kurz: fatal deutsch im Sinne der unseligen Entwicklungen deutscher Literatur des 19. Jahrhunderts – es ist erheiternd und befreiend, wie Karl Kraus, Robert Musil und Walter Benjamin da deutliche Worte über die ganze unerträgliche Truppe verlieren, und man braucht gar kein Bilderstürmer zu sein, um darin einen lange ersehnten Beitrag zur Justierung der Maßstäbe zu sehen. Diese bänglichen, beschämenden Kleinigkeiten, die Grillparzer gegen Heinrich von Kleists Erzählungen vorbringt – da mußte doch einer mal dreinfahren! Und das braucht uns ja nicht daran zu hindern, dennoch etwa Grillparzers ausgezeichnet richtige Einschätzung der poetischen Kraft (= Unkraft) Alphonse de Lamartines zu teilen. Ehre, wem Ehre gebührt, aber bevor es zur Verwischung aller Qualitätsmaßstäbe kommt und keiner mehr ein klares Wort sagt, stimmen wir doch Ben Jonsons und Arno Schmidts Maxime im Literaturkampf zu, die da lautet: »I love a good hater.«
Die geistige Welt gliedert sich ohnehin nicht nach objektiven Urteilen, sondern eher nach geistigen Affinitäten, aber die Kumpaneien, Wahlverwandtschaften und kämpferischen Allianzen sind ja nicht aller Argumente bar. Mag Schillers Attacke auf Bürger pompös von oben herab gewesen sein und in ihrer abstrakten Besserwisserei, ihrer edlen Farblosigkeit schon die ganze Schwäche des klassischen Weimarer Literaturprojekts von 1790 bis 1805 präfigurieren – man kann Schiller seine Gemeinheit nicht vergeben, kann und muß aber übers Persönliche hinaus die literarästhetische Position erkennen, die dahintersteht. Die ganze gesammelte Schimpfkanonaden lösen doch weit mehr aus beim Leser als nur Schadenfreude; sie steigern vielmehr die Lebendigkeit des Nachdenkens über Literatur, zwingen einen selbst zu neuem Nachdenken und wirken insgesamt aller Versteinerung entgegen. Ohne Schmerzen geht es natürlich nicht ab: Wie merkwürdig, daß ein Christoph Martin Wieland, der doch die Begabung Goethes, Kleists und Seumes erkannt hatte, dann so dümmlich-humorloses Zeug über den wunderbaren Jens Baggesen schreibt, dessen Herkunft von Laurence Sterne ihm ebenso wie Johann Wolfgang Goethe eingeleuchtet haben müßte, der ebenfalls grämlich gegen Baggesen und dessen hinreißend lebendigen Reisebericht »Das Labyrinth« (1791) loszieht. Oder: Was Grillparzer über Honoré de Balzac von sich gibt, vermehrt die Gründe unserer Verachtung für – Grillparzer; merkwürdigerweise vergibt man aber Arno Schmidt eher die Schiefheiten seines Verdikts über Balzac, offenbar deshalb, weil es erstens witzig vorgetragen ist und zweitens wenigstens eine winzige Poetik Arno Schmidts selbst liefert: das macht die temperamentvollen Sätze Schmidts in „Aus dem Leben eines Fauns“ so vergnüglich durchsichtig auf ihren Pro-domo-Charakter.
Was schließlich sehr für diesen Umriß einer literarischen Ästhetik und eines möglichen Umgangs mit Literatur, zusammengesetzt aus Beschimpfungen, spricht: Man wird auf geradezu melancholische Weise dessen gewärtig, daß noch die größten Werke, die bedeutendsten Autoren ihre Grenzen und ihre Schwächen haben: Die Beschimpfungen wirken insgesamt der Idolatrie entgegen, sie weisen auf die Grenzen, die noch das höchste Werk, und die Schwächen, die noch der außerordentlichste Mensch hat. Albert Ehrenstein hat recht, wenn er eine gewisse volltönende Monotonie, eine Art unterschiedslos wohlklingende Pompösität für einen schwachen Zug der »Divina Commedia« (zumindest für uns heute) hält, und Alberto Savinio erkennt scharfsichtig den muffigen und bräsigen Provinzphotographen gewissermaßen als ein wichtiges Ingrediens jener genialen Erscheinung, die wir Gustave Flaubert nennen. Dichterbeschimpfungen als Antidot gegen eine Idealisierung poetischer Existenzen, gegen romantische Künstlerkonzeptionen, als Hilfe beim Abbau von Anbetungen: »Ich bin gegen jeglichen Monotheismus; auch in der Literatur.« (Arno Schmidt) Über den Polytheismus der Literatur aber, über die Literaturgeschichte als ein Gefilde, auf dem Auf- und Abstiege und zufällig wie auch folgerichtig ausgehende Kämpfe und Verdrängungswettbewerbe stattfinden, Götter inthronisiert und wieder abgesetzt werden, über eine Phänomenologie der Etablierung einer literarischen Größe, die im einen Kontext so notwendig erfolgt wie im späteren dann wieder deren Sturz, ist gerade anhand der Dichterbeschimpfungen materialreich Vorlesung zu halten. »Es ist ein Buch zu schreiben über die Undankbarkeit gegen die Genies vergangener Zeit; nicht des Publicums, sondern der lebenden Genies; denn diese, wie seine Dichter, Philosophen, Moralisten, Politiker, Oeconomen, und was man will, fangen gewöhnlich damit an, daß sie vor den Augen des Publicums die Altäre der Verstorbenen ihres Faches zerschlagen; kein Wunder, daß dann die Verehrung derselben aufhört. Also ein Buch über die Undankbarkeit des Genies gegen die Genies! Aber ach! die Nemesis erwartet auch sie!« – man möchte meinen, hier habe einer den innersten Kern des Buches von Harald Bloom über die Leugnung dessen formuliert, was das Genie vom Genie lernte, das Phänomen der Unwilligkeit oder Unfähigkeit, großzügig und angstlos zu statuieren, was man von anderen gelernt habe. Doch das Zitat ist die Formulierung eines Projektes, das Friedrich Maximilian Klinger schon zu Ende des 18. Jahrhunderts erwog, jener Klinger, der lange genug den Dichtern verbunden und zugleich in der Distanz des russischen Hofmanns zu Deutschland und dem deutschen Dichterleben seine Beobachtungen zur Dankbarkeit als einem spirituellen Problem – und das heißt: einem Manko – hatte machen können.
»Der der deutschen Sprache innewohnende Instinkt scheint sich mit der Polemik nicht zu vertragen«, notierte Franz Baermann Steiner im englischen Exil in den vierziger Jahren. Vielleicht hat er recht, denn große Polemik und große Satire gibt es in der deutschen Literatur nur selten; ich bin mir aber nicht sicher, ob dies für immer an dem »der deutschen Sprache innewohnenden Instinkt« liegt oder nicht vielmehr an historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland, die die Entfaltung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und damit auch polemisch-argumentativer Sprechweisen nicht gerade förderten. Ganz sicher aber ist zu erkennen, daß die gedrückte Betulichkeit, dies Bravseinwollen um jeden Preis, welche nach 1945 in den deutschen literarischen Öffentlichkeiten herrschten, die Literatur nun ganz und gar nicht interessant macht und auch ihre Überlebenschancen durch Temperamentlosigkeit in Frage stellt. Der Spaß an der groben wie an der florettfeinen Attacke des einen Poeten gegen den andern liegt natürlich auch am unterschwelligen Eingeständnis sowohl des Attackierenden wie auch der Zuschauer bzw. Leser, daß eine Literatur und eine literarische Argumentation zu Fragen von einigem ästhetischen Rang und zur Frage des Ranges und Wertes von bestimmten Werken, die ohne jede notfalls auch verletzte Entschiedenheit wäre, langweilig bliebe. Man betrachte sich nur die literarischen Produkte von Epochen, in denen Aggressivität tabuiert war, oder man sehe sich Autoren und literarische Strömungen an, denen die Propagierung ausschließlich des Guten – und dies gar nur auf die sanfte Art des vor Güte tremolierenden »Weltfreundes« – Programm war, und man wird diese Literatur nicht nur langweilig, sondern verlogen finden. Denn sie verschweigt, daß der Mensch eben nicht rein gut und immer zu kommunikativem Handeln aufgelegt ist, sondern in einem ja durchaus auch fruchtbaren und zugegeben auch gar nicht immer ganz harmlosen Sinn auf Streit und Auseinandersetzung bis zur (sei’s auch nur metaphorischen) Annihilierung des Gegners sinnt.
Wenn es der Literatur an Aggressivität fehlt, entsteht jene Limonadenhaftigkeit, jenes bigotte Säuseln, jenes gedrückte abendländische Murmeln, welches man an der westdeutschen Nachkriegsliteratur zumindest bis ungefähr 1960 so massiv beobachten konnte. Und umgekehrt: Nicht langweilig waren just in jenen Jahren etwa die Autoren, die sich nicht an das Aggressivitäts-Tabu hielten, in der frühen DDR bis zu einem gewissen Grad Wolf Biermann oder Adolf Endler oder auch Karl Mickel, in der Bundesrepublik jahrelang fast einzig Arno Schmidt, Max Bense und Gottfried Benn. Sie gaben ihre Statements rücksichtslos ab und fragten nicht immer, ob da vielleicht dem geistigen Kleinbürger seine Gießkanne verbogen würde. Heinrich Heine wäre für das 19.Jahrhundert in diesem Zusammenhang zu nennen und als Weltenrichter aus der Zeit um die Jahrhundertwende der große Karl Kraus, der in der Fackel programmatisch nicht einfach was »bringen«, sondern was »umbringen« wollte – an diesen großen Spöttern und Hassern sieht man die notwendige Legierung von intellektueller Leidenschaftlichkeit mit Aggressivität. Und fast nur dann, wenn wir als Leser solcher Legierung, solchem intellektuellen Temperament begegnen, reagieren wir leidenschaftlich dankbar für diese stimulierende Leidenschaftlichkeit der Autoren. Oder wie Abraham Lincoln sagte: »You can’t fertilize a field by farting through the fence.«
Ich habe bei dieser Sammlung die Dichter und Schriftsteller in ihrem Verhältnis zu ihren Kollegen zu Wort kommen lassen wollen, und das heißt, daß die Kritiker ausgeschlossen sein sollten; das Verhältnis der Autoren zu den Kritikern, die Aggressivität auch wiederum der Kritiker gegen die Autoren ist eine aus vielen psychologischen Gründen ganz andere Sache als die Rivalitäten der Kreativen untereinander. Natürlich wollte und will ich keinen qualitativen und auch keinen hintersinnig feinsinnigen Unterschied zwischen »Dichtern« und» Schriftstellern« machen, hätte also den Band auch »Schriftsteller beschimpfen Schriftsteller« nennen können – aber dies wäre ein zischender und stolpernd umständlicher, ein zuumständlicher Titel gewesen, und daher sind allein die »Dichter« als Schimpfredner benannt. Der Leser wird merken, daß ich aber an einigen Stellen der Versuchung nicht widerstanden habe, auch mal einen Kritiker oder einen Philosophen über einen Kollegen schimpfen zu lassen, wenn die Brillanz der Formulierung einfach bestechend ist. Ohnehin wäre in den Fällen Schlegel, Heine oder Kraus etwa die Unterscheidung zwischen dem Dichter/Schriftsteller und dem Kritiker nicht recht möglich gewesen, und ist etwa Schopenhauer kein großer Schriftsteller? Drei oder vier freie Zuordnungen von Autoren zu Sätzen haben wir uns ebenfalls nicht verkniffen: natürlich hat sich z.B. Lichtenberg den Satz, mit größerer Majestät habe noch nie ein Verstand stillegestanden, nicht mit Sicherheit zu Klopstock einfallen lassen. Aber er paßte halt so präzise eben da hin –
Die Schreibung der zitierten Aussprüche haben wir, wo irgend möglich, an zuverlässigen Drucken bzw. Ausgaben überprüft und dabei auf Vereinheitlichung der Schreibweise weitestgehend verzichtet.
Mein Dank gilt zuvörderst Gerd Haffmans, mit dem zusammen Anfang der achtziger Jahre die Idee zu dieser Sammlung von Undankbarkeiten, Todeswünschen und Messerstichen der Genies unter- und übereinander entstanden ist. Beim Sammeln haben die Freunde in Frankfurt und in Berlin, in Scheeßel und in Wien, in Hille und Augsburg, Paris und Bielefeld geholfen; vor allem Sabine Kyora und Ric Maréshal danke ich für Hinweise auf Beschimpfungen und für Mitarbeit an der Sammlung.
Ich widme das Buch dem Andenken meines Freundes Ruben Klingsberg (1909–1993). Obwohl Journalist und Theaterkritiker in Prag und Jerusalem, war der aburteilende, aggressive Umgang mit Dichtern trotz seiner Verehrung für Karl Kraus seine Sache eben nicht; der Ton eines respektvoll milden Spotts lag ihm viel eher. Welches Glück es sein kann, mit den Werken unterschiedlichster Schriftsteller selbstverständlich, heiter und unendlich kenntnisreich zu leben und in ihrem Stimmengewirr sich zu bewegen, hat nicht zuletzt er mir vorgeführt.
München, im Mai 2006
Jörg Drews
Jörg Drews. Nachwort. In: Dichter beschimpfen Dichter. Ein Alphabet harter Urteile. Zusammengesucht von Jörg Drews & Co. Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2006, S. 257-270.