Jörg Drews: Letztes Jahr in Bethlehem. Jubel, Trubel – Heilige Nacht
Der Kartenvorverkauf für die Teilnahme an der Mitternachtsmesse in der Geburtskirche in Bethlehem hat am 1. Dezember begonnen, soviel ist im Jerusalemer Fremdenverkehrsbüro in der Yaffo Street zu erfahren. Also gehe ich in die Altstadt ins Kloster der franziskanischen Brüder. Doch der Bruder Pförtner erklärt mir mit liebenswürdigem Bedauern in bestem Englisch, daß alle Tickets „sold out“ seien: „I am very sorry for you.“ Nur der Militärgouverneur von Bethlehem habe noch einige Karten für hohe Diplomaten …
Am Weihnachtsabend versuchen wir auf eigene Faust den Weg nach Bethlehem zu finden. Mit einem arabischen Bekannten treffen wir uns am Yaffo-Tor im Süden der Altstadt und gehen dann ein paar Schritte zu einem Touristenbüro in Ostjerusalem, wo wir einen Laufzettel und einen Stempel mit der Jahreszahl „1969“ auf die hinterste Seite des Reisepasses bekommen: Und ihr könnt sagen, ihr seid in diesem Jahr dabeigewesen. Allerdings ohne den Araber; er hätte in einem Spezialbüro in der Neu-Stadt von Jerusalem sich eine Genehmigung holen müssen, in der Nähe des King George Hotel. Zu spät also, wir trennen uns; Touristen sind ja harmlose Leute, bringen auch Devisen, unkontrolliert zureisende Araber aber könnten auch in der Christnacht Bomben werfen, „Friede auf Erden“ hin oder her, sicher ist sicher. Normalerweise kostet die sechs Kilometer weite Fahrt zwischen Jerusalem und Bethlehem 80 Agurot, also etwa 80 Pfennig pro Person in einem Sheruth-Taxi für vier Personen, aber Weihnachten ist nur einmal im Jahr, also kostet die Fahrt heute für vier Personen 15 israelische Pfund, rund 15 Mark. Nun gut, „den Menschen ein Wohlgefallen“, dem Taxifahrer einen wohlgefälligen Lohn, wir wollen nach Bethlehem, also zahlen wir.
Der Wagen schlängelt sich durch drei Militärkontrollen durch; im Slalom fahren wir um die Barrieren, müssen jedesmal Paß und Laufzettel herzeigen, bis die Soldaten, die eine Hand an der Uzi, die andere an der Mütze, die Durchfahrt freigeben. In Bethlehem geben die an der Straße geparkten Wagen und Busse einen Vorgeschmack der Massen, die sich dann auf dem „Manger Square“, dem Krippenplatz vor der Geburtskirche, drängen. Wer in der Welt was auf sich hält, ist dagewesen, da sieht man Neger, Inder, Dänen und Chinesen, vor allem aber Amerikaner und israelisches Militär, das sein Heerlager in der Polizeikommandantur an der Nordseite des Krippenplatzes aufgeschlagen hat. Die Gewehre lehnen dutzendweise in den Gängen der Kommandantur an der Wand, die kaugummikauenden Soldaten hören Schlagermusik aus den in Israel allgegenwärtigen Transistorradios. Aber nach Tickets für die „Midnight Mass“ frage ich vergeblich: „We would like to help you, but you know, the Governor has only got some more tickets for diplomats and some personal friends.“
Zu denen zählen wir leider nicht, aber noch ist es nicht Mitternacht, und noch ehe wir uns das bunte Treiben auf dem Krippenplatz näher angesehen haben, schlüpfen wir gebückt durch den kleinen Eingang in die Geburtskirche, die dann erst gegen 12 Uhr geräumt werden muß. Mehrere Kirchen streiten sich um den Besitz des Allerheiligsten, und deshalb gibt es über der Stelle, an der Christus geboren wurde, gleich mehrere Kapellen, die ineinander übergehen; einig ist man sich unter Katholiken, Armenisch-Gläubigen und Griechisch-Orthodoxen offensichtlich nur darüber, daß die unterirdische Krippenkapelle die Geburtsstelle Christi ist. Köpfe einziehen und sich in Geduld fassen, langsam geht’s treppab, und dann sehen wir zur Linken den Stern, den metallenen, in Marmor eingelassenen Stern von Bethlehem. Hinter uns erklärt ein Amerikaner seinem Begleiter: „Some say, Christ was born more to the right, where you see all the candles.” Oh really? Die Krypta ist gedrängt voll, einige Besucher knien; ganz rechts eine Gruppe schwarzgekleideter Schwestern, sie teilen lächelnd Papiersterne aus, kostenlose Souvenirs, und weil sie „Fröhliche Weihnachten!“ wünschen und schwäbisch sprechen, scharen sich einige Deutsche um sie, die uns lächelnd berichten, daß sie hier in der Nähe leben und arbeiten; wenn wir etwas früher gekommen wären, hätten wir an ihrem protestantischen Gottesdienst in der Hirtenkapelle teilnehmen können. Schade.
Nun schlagen sie kleine Büchlein auf und intonieren mit jüngferlichen Stimmen deutsche Weihnachtslieder. Einerseits: Wo sollte man Weihnachtslieder singen, wenn nicht hier? Andererseits: Dauernd sind Kameras gezückt, die Blitzlichter erleuchten grell die Krippenkapelle, ein Touristenführer sagt halblaut zu seiner Gruppe: „Please move on, don’t mind the people singing and praying!“ Aber schließlich lassen wir die Ironie Ironie sein und singen mit unter dem Dutzend Stimmen. Die Schwestern lächeln den Männern dankbar zu: Es klingt doch besser, wenn nicht nur zaghafte Frauenstimmen ein bißchen weihnachtliche Innigkeit zu verbreiten suchen. Und die jungen Deutschen schauen sich etwas verlegen an. Soll man sich nun schämen, weil man der Sentimentalität nachgab? War das eine peinliche Äußerung des deutschen Gemüts?
Wir lassen es auf sich beruhen und gehen wieder nach oben, sitzen neben Amerikanern auf einem Steinmäuerchen und lassen die Beine baumeln. Noch sind wir in der Kirche, aber die Stimmung ist lässig, die Kleidung der meisten — Snowcoats und arabische Fellmäntel herrschen vor – ganz unfeierlich, und einige rauchen sogar.
Draußen aber ist dann Karneval. Vor der Polizeikommandatur steht ein Christbaum, in den man einfach rote und gelbe Glühbirnen gehängt hat; Glühbirnengirlanden ziehen sich über den ganzen Platz, links vom Polizeigebäude gibt es Coffee, Tea, Tempo, Lemonade und – wie könnte es anders sein – Coca-Cola. Doch da die Mitternacht schon näher rückt und es kühler wird, gehen wir zu einem arabischen Straßenhändler, der ein heißes zuckersüßes Milchgetränk anbietet: „Sweet, sweet, sweet!“ Und 1942 kämpfte er in Nordafrika auf der Seite der Engländer, kam dann in deutsche Kriegsgefangenenschaft und sogar nach Deutschland. „Germany very good!“ Friede auf Erden also, und ein paar kräftige völkerverbindende Shakehands. Auf der Südseite des Platzes ist inzwischen ein amerikanischer High-School-Chor aus Texas eingetroffen, sie haben es gerade noch geschafft, heute nachmittag in Tel Aviv zu landen, und nun sind sie hier, „Isn’t that great?“ Es ist, und sie singen uns zuerst „Tuck me to sleep in my old Kentucky home“ und andere amerikanische Lieder, die zur Christnacht in Bethlehem passen wie die Faust aufs Auge.
Oder eigentlich doch ganz gut passen, wenn man bedenkt, daß unterdessen eine Gruppe von Hippies, die high oder betrunken sind, lauthals „We all live in a yellow submarine“ brüllen, während ein paar Meter weiter ein Amerikaner mit einem türkischen Fez auf dem Kopf und ein anderer mit einem jüdischen Käppchen auf dem Hinterkopf ein paar Araberjungen das rhythmische Hervorstoßen der Rufe „Mao Tse-tung!“ und „Ho Ho Ho Tschi Minh!“ einzuüben versuchen. Der High-School-Chor aber ist inzwischen doch zu Weihnachtsliedern übergegangen, und als die Vorstellung zu Ende ist, laufen ein paar der wackeren Sänger auf die Kabinen des Telephonwagens zu, den die israelische Post an der Ostseite des Krippenplatzes installiert hat. Schnell eine Übersee-Verbindung mit Corpus Christi/Texas angemeldet, und dann staunen die Lieben zu Hause: „Hello, is that you, Tom? Guess where I am speaking from! What? Well, I’ll tell you, I am speaking from Bethlehem Israel! Yea! And I am fine, and it’s great here! Really!“
Für Spaß ist also gesorgt. Und einige blicken sogar auf die große Leinwand, die vor dem Polizeigebäude aufgespannt ist und auf die über Monitor die Mitternachtsmesse übertragen wird. Doch das Geschehen ist ein bißchen monoton; man sieht immer nur den Patriarchen von Jerusalem, einen unter der Last seiner vielen Gewänder schwitzenden älteren Herrn, dem beim dauernden Umkleiden und Hantieren einige Priester zur Hand gehen. Am Rand sieht man ab und zu Diplomaten und die „personal friends“, des Militärgouverneurs, die die Tickets bekommen haben. Also nuckelt man an der Coca-Cola-Flasche und betrachtet abwechselnd den Patriarchen und einige Hippies, die auf der Westseite des Krippenplatzes unter herumliegenden Steinen sich ein Feuerchen angezündet haben und einen Fisch zu braten versuchen. Die Kerze, an der sie die Zigaretten anstecken, haben sie vorhin aus der Kirche geklaut. Ein letzter Blick auf den Bildschirm, ein letztes Lachen über die geschnitzte Krippengruppe, die ein Araber anbietet: Wenn man das Uhrwerk darin aufzieht, erklingt „Stille Nacht“. „Is very beautiful!!“ Ja, wirklich „very“! Und in einem Bus voller amerikanischer High-School-Studenten fahren wir nach Jerusalem zurück.
Am nächsten Tag erwische ich bei meinem Zeitungshändler in der Yaffo Street die Süddeutsche Zeitung und finde unter dem „Vermischten“ folgende Meldung: „Bonn (dpa). Jesus stammt nach den Worten des Bonner Theologen Hartmut Stegemann nicht aus Nazareth und wurde auch nicht in Bethlehem, sondern wahrscheinlich in Kapernaum am Nordrand des Sees Genezareth geboren. Stegemann sagte in der Universität Bonn bei seiner Antrittsvorlesung, als Geburtsstadt Jesu sei in der Bibel Bethlehem angegeben, weil die Juden in Jesu den Endzeitkönig, den Messias gesehen hätten, der als Nachkomme König Davids nach der Verheißung eben in Bethlehem habe geboren sein müssen …“
Jörg Drews: Letztes Jahr in Bethlehem. Jubel, Trubel – Heilige Nacht. In: SZ an Weihnachten, 24./25./26.12.1970, Nr. 307/308/309.