Jörg Drews: Rückblick auf Versäumtes. Gershom Scholems Essays
GERSHOM SCHOLEM; judaica 2. Essays. Bibliothek Suhrkamp Nr. 263. 228 Seiten
Das einleitende Stück in der Sammlung von Essays des großen jüdischen Gelehrten aus den Jahren 1964 bis 1969 wendet sich „Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen ,Gespräch’. Illusionslos und präzise, dem verwaschenen Gebrauch des Begriffs „Gespräch“ abhold, wie er noch vor wenigen Jahren mit existentiellem Vibrato und zugleich ganz oberflächlich im Jargon der Eigentlichkeit gebraucht wurde, geht Scholem mit diesem Mythos ins Gericht: „Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als solchen Begriff auf die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden. Denn die Juden riefen die Deutschen an, stellten ihre geistige Produktivität in den Dienst der deutschen Kultur, assimilierten sich unter Verleugnung ihrer religiösen und nationalen Tradition, und ernteten doch nur Befremden, Achselzucken, Duldung unter der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden“; daß man auf deutscher Seite nicht bereit war, den „Juden als Juden“ zu begegnen, darin liegt nach Scholem der Hauptgrund für das Scheitern des deutsch-jüdischen Gesprächs, ein Scheitern, das sich schon lange vor der manifesten Katastrophe des Dritten Reiches abzeichnete.
Paradoxerweise leuchten gerade in der rücksichtslosen Durchdringung, der souveränen und gerechten Darstellung des Verhältnisses von Deutschen und Juden noch einmal die versäumten Möglichkeiten auf; im Geist jener drei Essays von Scholem — außer in dem kurzen einleitenden Aufsatz sah er sich veranlaßt, in zwei weiteren Essays zu diesem Problem des deutschjüdischen Verhältnisses Stellung zu nehmen — wäre ein „Gespräch“ denkbar. Oder vielleicht muß man heute schon sagen: denkbar gewesen. Denn für die Deutschen der jüngeren Generation, für die durch Alter und Erziehung das Verhältnis zu den Juden und zum jüdischen Anteil an der deutschen Geistesgeschichte zwar noch ein historisches, aber kein aktuelles Problem mehr ist, bedeutet die jüdische Herkunft etwa Sigmund Freuds, Kafkas oder Walter Benjamins etwas, was zwar ins Nachdenken über Werk und Person der Genannten einzubeziehen ist, demgegenüber aber wenn noch nicht völlige, so doch zunehmend größere Unbefangenheit gestattet ist. Gerade wer Geschichte bewußt in sich aufgenommen hat, für den darf Historisches auch aufgehoben sein, im Hegelschen Sinn des Wortes.
Es ist verständlich, daß — vom zionistischen Standpunkt Scholems betrachtet — es möglich ist zu sagen, das Judentum habe brillante Begabungen an die Wirts Völker und insbesondere an das deutsche Geistesleben „verloren“; dennoch weiß natürlich auch Scholem, daß die Befreiung der intellektuellen Produktivität der Juden in Europa und Deutschland aufs tiefste mit ihrer Loslösung von den erstarrten religiösen und gesellschaftlichen Traditionen des Judentums zusammenhängt. Walter Benjamin war ein deutscher Schriftsteller — in diesem Satz, der doch unbestreitbar richtig ist, liegt die ganze grausige Ironie des deutsch-jüdischen Verhältnisses.
Übrigens ist auch in Israel eine andere Generation herangewachsen, eine Generation, die — schon aus sprachlichen Gründen, weil der Zugang zu den jüdisch-deutschen Schriftstellern ihr verwehrt, vielleicht für sie auch unter den Bedingungen der Pionier-Situation ihres Landes gar nicht wichtig ist — ein deutsch-jüdisches Gespräch gar nicht mehr in dem Sinn der Ausführungen Scholems führen kann. In Israel knüpft man meist lieber direkt an die im strengen Sinn „jüdischen“ Traditionen an, die in den Ländern der Diaspora entstanden (was oft etwas künstlich Angedrehtes, seltsam Folkloristisches hat); die Gegenwart aber zwingt zu einem militärisch-technischen, meist nach den USA orientierten Utilitarismus, und die Beziehungen zu Deutschland erscheinen vorwiegend als politisch-ökonomisches Problem. Vielleicht ist es ehrlich, zu sagen, daß es ein deutsch-jüdisches Gespräch, in dem den Partnern der ganze Reichtum der Geschichte ihrer Beziehung präsent ist, gar nicht mehr wird geben können.
Dem deutschen Leser — und für die meisten der Essays von Scholem im vorliegenden Band läßt sich eigentlich kein anderer Leser denken — geben die Aufsätze über die Abgründe, die zwischen Juden und Deutschen lagen und noch liegen, natürlich am meisten zu denken. Deshalb sei hier nur kurz gesagt, daß das Buch außerdem noch eine „Rede über Israel“ und über „Israel und die Diaspora“ enthält, sowie eine Ansprache zur Einweihung des israelischen elektronischen Rechners „Golem I“, die von lustig-gelehrsamer Tiefsinnigkeit ist. Hinzu kommen Erinnerungen an „Agnon in Deutschland“, ein umfangreicher Essay über „S. J. Agnon — der letzte hebräische Klassiker“ und eine sehr kritische Auseinandersetzung mit „Martin Bubers Auffassung des Judentums“; mit aller Vorsicht darf man wohl sagen, daß mit dieser Schrift — die man zusammen mit Scholems Aufsatz „Bubers Deutung des Chassidismus“ lesen sollte, veröffentlicht in dem Band „Judaica”, ebenfalls in der Bibliothek Suhrkamp — der Überschätzung Bubers in Deutschland insbesondere während der Jahre der „existentialistischen“ Mode gesteuert wird. Am Schluß steht Scholems schöner Essay über seinen Freund Walter Benjamin, der vor einigen Jahren schon in der Neuen Rundschau zu lesen war und der, schon wegen der anderen, sozusagen „jüdischeren“ Perspektive Scholems, ein Gegenstück zu Theodor W. Adornos Interpretation Benjamins und den Schriften der „linken“ Benjamin-Exegeten bildet. Bewundernswert an Scholems Benjamin-Aufsatz ist nicht zuletzt die Sprache: Keiner kann in Deutschland wohl zur Zeit im Essay eine so makellose, ausgewogene, ruhige und völlig uneitle Prosa schreiben.
Zwei Bitten des Rezensenten an Gershom Scholem zum Ende: Er möge nicht die Sünden der Väter mit umgekehrtem Vorzeichen den Söhnen ankreiden. Das heißt, daß es ungerecht ist, wenn er beklagt, daß vor vierzig oder fünfzig Jahren „kein Deutscher“ den Rang Kafkas, Simmels, Freuds oder Benjamins „erkannt“ habe (sondern nur deutsche Juden), und im nächsten Satz das intensvie Interesse meiner Generation beispielsweise an Benjamin als „verspätete Geschäftigkeit“ bezeichnet. Und: Er möge noch mehr über Benjamin schreiben, insbesondere, da dies durch seine Studien zur Theologie des Judentums sein Fachgebiet ist, über jene nur in „Obertönen“ erklingenden, aber deutlich vernehmbaren jüdischen theologischen Begriffe im Werk Walter Benjamins; er hat sich schon die Mühe der Entzifferung von Benjamins „Berliner Chronik“ gemacht, und viele würden ihm weitere Bemühungen danken.
Jörg Drews: Rückblick auf Versäumtes. Gershom Scholems Essays. In: SZ-Beilage v. 21./22.11.70 Nr. 279