Jörg Drews: Zürcher Pirouetten im Wertevakuum. Walter Serners „Letzte Lockerung“
„Letzte Lockerung“ ist nötig für das Handgelenk von Taschendieben, damit sie unbemerkt in Taschen ihrer Opfer kommen, und dazu gehört natürlich obendrein eine absolut entspannte, abgebrühte Menschenkenntnis (welche der Titel als zweite Bedeutung meint), formuliert etwa von Dr. Walter Serner, Nachfolger von sowohl (auf der ersten Seite) Montaigne, Gracian und den französischen Moralisten wie auch (auf der heiteren Seite) des Diebes Manolescu und des Weltmannes Oskar A.H. Schmitz.
Die entscheidenden Schritte zur Lockerung aller künstlerischen und moralischen Kategorien tat Walter Serner, 1889 in Karlsbad geboren, in den zehner Jahren: Er verschaffte sich einen Dr. jur. der Universität Greifswald, befreite sich von seinem Idol Karl Kraus, nahm Teil an den Dada-Lesungen in Zürich und Genf, wo er aus der ersten Fassung der „Letzten Lockerung. manifest dada“ (1920) vortrug, jenem intelligentesten Dada-Manifest, das die Bewegung hervorgebracht hat; der Tumult war unbeschreiblich. Man kann also Dr. Serner dafür verehren, daß er Dada intellektuell – in Dada-Manier! – auf den Punkt gebracht hat wie kein anderer, und man kann ihn verehren als einen großen Moralisten mit umgekehrten Vorzeichen: Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt, heißt es bei Dostojewski angeblich, und das gibt einem dann eben eine große Lockerheit, die nihilistisch sein kann oder von einer geradezu halkyonischen Heiterkeit durchdrungen. Bei Serner ist sie beides.
Ist das „manifest dada“ – 40 Seiten von unerhörter Rasanz – eine Einführung in Dada (Sernerscher Observanz) in 78 Graden, so ist der zweite Teil, nämlich das „Handbrevier für Hochstapler“ eine Sammlung von 580 Merksätzen, die von den Höhen scharfsinnigster anthropologischer Einsicht bis in die Niederungen von Hochstapelei, Spieltisch und Bordell führen. Feuilletonisten von der F.A.Z. werden wütend, wenn man diesem Korpus von Maximen und Reflexionen den entlarvungspsychologischen Rang von Schriften Nietzsches und Freuds zuweist, aber so ist es nun einmal. Daß die unerschrocken kalten und illusionslosen, dabei spielerischen Formulierungen des Dr. Serner in seinem Brevier den Nazis nicht gefallen hätten, davon ist auszugehen, aber weder hatten sie wohl seine Schriften gelesen, noch hätten sie sie verstanden. Aber er hatte jenen bekannten anderen, damals tödlichen Makel: Er war Jude. Und darum verschwand er 1942 mit seiner Frau Dorothea im Osten, irgendwo zwischen Minsk und Riga, sie wissen schon … Daß Andreas Puff-Trojan das Manifest (in der zweiten Fassung von 1927) und das Handbrevier neu mit 198 Erläuterungen versehen und in der so soignierten wie einfallsreichen Manesse Bibliothek wieder herausgebracht hat, Serner also zum Klassiker macht, ist ihm und dem Verlag hoch anzurechnen. Denn Dr. Walter Serner ist einer der edelsten Geister der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Er lebte und starb im Angesicht des Nichts und wußte: Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.
Jörg Drews: Zürcher Pirouetten im Wertevakuum. Walter Serners „Letzte Lockerung“. In: Süddeutsche Zeitung, 20.11.2007