Jörg Drews: Ein ernsthaftes Glückskind. Ludwig Harig entwischte der Nazi-Schuld – und ist glücklich.
Große Kunstwerke, sagt Adorno, haben an ihren problematischsten Stellen Glück; Nun will ich Ludwig Harigs neues Buch gar nicht in einem so emphatischen Ton eines großes Kunstwerk nennen, aber das Erfreuliche, stellenweise sogar Bezaubernde ist, daß dieses Arrangement von Recherchen und Plaudereien, von Vignetten und Reminiszenzen, von Reportagen und Festansprachen eben Glück hat, indem es nicht gestückelt, sondern wie ein Areal wirkt, in dem einer herumhüpft. Der da hüpft, tut dies gedankenvoll und übermütig zugleich, und an Terrain und Muster fürs erzählerische und nachdenkende Herumhüpfen gibt es höchstens etwas, daß bei Julio Cortazar „Rayuela“ heißt, das man in der Pfalz (und vielleicht auch im Saarland?) „Hickelhäuschen“ nennt und in den restlichen deutschsprachigen Ländern „Himmel und Hölle“, das ist: ein Arrangement von Gevierten, mit Kreidestrichen aufs Pflaster gezeichnet.
Und Ludwig Harig hüpft, mal vorwärts, mal seitlich, mal dreht er sich um sich selbst und auf der Stelle. „Aus meinem Leben“ heißt das Buch im Untertitel; schon denkt man: Eine Anspielung auf Goethes Autobiographie – jetzt wird er größenwahnsinnig! Es ist aber alles viel entspannter, denn Harig, Jahrgang 1927, hat zwischen 1986 und 1996 mit den drei autobiographischen Romanen „Ordnung ist das ganze Leben“, „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ und „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“ das Leben seines Vaters, seiner Familie und sein eigenes bis ungefähr 1960 erzählt, und so war er der „höflichste der Menschen“ im Sinne des Goethe-Satzes, wer andern Rechenschaft gebe über sein Leben, der erspare ihnen nur das Herumrätseln und Herumschnüffeln und erfülle zudem simple Zeitzeugen-Pflicht. Als Harig, so um 1996, fertig zu sein glaubte mit der Autobiographie, merkte er, daß das Leben weiterging, daß vieles ihm Wichtige in den Romanen keinen Platz gefunden und daß er sich in manchem auch geirrt hatte. Was er aufbewahrt hatte an deutschem Familienleben, von des Vaters verstörter Psyche (im Ersten Weltkrieg vor Verdun versehrt), von der eigenen Kleinbürger- und Nazi-Jugend, bis nach Kriegsende der Jung-Lehrer und Jung-Dichter Harig dann unter die Theoretiker der sog. Stuttgarter Schule unter Anleitung des Texttheoretikers Max Bense fiel, das ist unschätzbar als Zeugnis deutscher Ideologie, deutscher Psyche, deutschen Alltags vor allem in jenen drei Jahrzehnten zwischen ungefähr 1930 bis 1960, und seine spezielle Färbung bekommt es durch saarländische Grenzlandmentalität und Nähe Frankreichs.
Aber da war, wie gesagt, noch frisch Erlebtes und neu Entdecktes, und wenn das auch kein geschlossenes neues Buch geben würde, dann doch im schlechtesten Fall ein Potpourri und im besten Fall eine Sammlung von einander ergänzenden Nachfragen für die Fans seiner autobiographischen Romane. Daß aus den Ingredienzen, den odds and ends, den auf Zweitverwertung wartenden Klein-Opera nun doch mehr wurde als ein sympathetisch lesbares Sammelsurium, hängt erstens mit der fast alle Stücke durchtränkenden Erfahrung Harigs zusammen, unheimlich Glück gehabt zu haben, daß das Dritte Reich kollabierte, als er selbst noch nicht einmal 18 Jahre alt war und also nicht mehr tätlich schuldig hatte werden können, und zweitens mit der Ernsthaftigkeit, mit der Harig immer wieder Irrtümer, Leichtfertigkeiten und Fehleinschätzungen eingesteht.
Drei Beispiele für Selbstkorrekturen und Selbstzweifel: An einem Mitschüler in der Volksschule, an dem er mitsamt der ganzen Klasse durch Spott und Häme glaubte schuldig geworden zu sein, erinnert er sich in „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ zwar beschämt, aber falsch, stößt jetzt in den neunziger Jahren erneut auf René – jetzt erst enthüllt sich ihm das Trauerspiel eines schief gelaufenen deutschen Lebens, und erst jetzt kann dem unglücklichen Leben des René sein ganz eigenes Recht als Erzählung, jetzt, da er gewissermaßen aus dem Bannkreis der Lebensgeschichte Harigs heraus treten darf, gegeben werden.
Zweites Beispiel: Der Saarländer Harig hat eine verquere Schwäche für den Saarländer Erich Honecker, über den er in der achtziger Jahren ein etwas mit saarländischer Sentimentalität durchsetztes Porträt verfaßte. Jetzt, 1992, besucht er den Häftling Honecker im Moabiter Gefängnis und erliegt beinahe nochmals der Sentimentalität des Mitleids mit einem halb starrköpfigen, halb anrührend mürbe gewordenen alten Landsmann – beinahe, denn bei der Rückkehr aus Berlin erreicht ihn der Bericht eines DDR-Autors von den unendlichen, kleinlichen und grausamen Rpressalien und Bespitzelungen, deren deren Details und deren Mitwirkende dieser Autor erst aus der Lektüre seiner Stasi-Akte erfuhr – und dies alles geschah also im Staat jenes Honecker, der im Gespräch im Gefängnis so ungeheuer menschelte!
Drittens: Der Volksschullehrer Harig hatte vor 25 Jahren einen hinreißende Sammlung von Aufsätzen seiner Schüler, „Und sie flogen über die Berge …“, veröffentlicht; er war stolz und wir als Leser waren bezaubert von der Poesie dieser Schüler-Aufsätze, welche eine von aller Rigidität befreite, eben durch die Pädagogik des Lehrers Harig befreite Leichtigkeit zeigten. Harig nimmt nun wieder Verbindung mit den Schülern auf und muß eingestehen, daß der Erfolg seiner Befreiungs-Pädagogik vielleicht doch nicht ganz so groß war – das legen jedenfalls die späten Briefe an den immer noch geliebten, aber nun auch skeptisch geliebten Lehrer nahe.
Darum herum, um diese am schwersten wiegenden Texte, gruppieren sich Miniaturen, die vom Glück eines Lebens in dauernder Wechselwirkung mit Frankreich und vor allem Lothrigen zeugen, von der Erschütterung darüber, in der Nähe des Saarländers Willi Graf, des hingerichteten Studenten der „Weißen Rose“, gelebt und sozusagen selbst nichts ‚gemerkt‘ zu haben, vom schizophrenen Glück, einerseits ein richtiger Hitlerjunge sein zu wollen und doch 1943 in der NS-Lehrerbildungsanstalt bei der Lektüre von Eichendorffs „Taugenichts“ ganz anderes zu träumen, vom Glück auch, einen solchen Freund gehabt zu haben wie den Übersetzer Eugen Helmlé (er ist vor anderthalb Jahren gestorben).
Und dann ist da, wie gesagt: die meisten Texte des Buches grundierend, das immer wieder aufsteigende Gefühl des beschämenden Glücks und der hilflosen Dankbarkeit dafür, durch die Gnade der Minderjährigkeit um das Unglück, die Versuchung, den Strudel des Schuldigwerdens herumgekommen zu sein, wofür doch viele Voraussetzungen gegeben gewesen wären: Ehrgeiz, eine eifrige Nazi-Gesinnung und eine bubenhafte Neigung zu frecher Großmauligkeit. Aber als alles in Trümmern gefallen war, gehörte dieser Generation in einem ganz anderen Sinn als in jenem berüchtigten Lied „die ganze Welt“: Ein junger Volksschullehrer konnte nun in Lyon unterrichten, die Expressionisten entdecken, selbst experimentell dichten und überhaupt, vor allem in Gestalt des nahen Lothringen, jeden Samstag, den der Herr werden ließ, „la douce France“ genießen. Von diesem Glücks- und Lebensgefühl ist Ludwig Harigs Buch durchwärmt, und das macht seine Lektüre zu einer so nachdenklichen Erfahrung.
Drews, Jörg: „Rückschau auf ein glückliches Leben“. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 22. 10. 2002. (Zu: „Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben“. Carl Hanser Verlag München 2002) (Manuskriptfassung)