Jörg Drews (Bielefeld): Die Rettung konventionellen Erzählens durch die Psychoanalyse. Über Robert Musils Novelle „Die Portugiesin“*
Der Einsatz von Psychoanalyse oder psychoanalytisch angeleiteten Verstehens bei dem Versuch, literarische Texte bzw. bestimmte Aspekte von literarischen Texten zu verstehen – dies ist eine der Möglichkeiten, wie Psychoanalyse und Literatur in diesem Jahrhundert zusammengekommen sind: Es beginnt bei Freud schon um 1900 und endet nicht bei Jacques Lacan und seinen Nachfolgern in unseren Jahren. Was mich heute mehr interessieren wird, ist die Frage, wie die Tatsache des Vorhandenseins der Psychoanalyse als eines elaborierten Wissenszusammenhangs, als einer systematisch-begrifflich geregelten Disziplin, auf die Literatur unseres Jahrhunderts eingewirkt hat. Wie veränderten Kenntnisse der Psychoanalyse – und seien es auch nur oberflächliche, auf Schlagworte oder einige wenige Begriffe sich beschränkende Kenntnisse – die Art der Imagination der Dichter und Schriftsteller? Haben sie ihre Texte anders phantasiert, anders konstruiert in Kenntnis der Psychoanalyse als einer sie befördernden, ihre Einsichten verfeinernden oder auch als einer von ihnen als Konkurrenz empfundenen Wissenschaft? Zu den problematischen Aspekten literaturwissenschaftlicher Arbeiten von Psychoanalytikern und vielfach auch psychoanalytisch orientierter Arbeiten von Literaturwissenschaftlern gehört die Vernachlässigung der Tatsache, daß ein literarischer Text – und scheine er ‚case studies’ auch so eng verwandt zu sein wie etwa eine psychologische Novelle – nicht ein psychologischer Fallbericht ist und auch nicht eine Phantasie eines Autors, die auf dessen Unbewußtes hin zu lesen sei. Ein Kunstwerk mag die Seite eines Phantasmas haben, doch läßt die Analogsetzung von Kunstwerk mit Traum bzw. Tagtraum auf jeden Fall den Anteil von intellektuell konstruktiver Arbeit unterschätzen, der in die Produktion von künstlerischen Texten eingeht. Umgekehrt muß die Psychoanalyse, ihre Inhalte, ihre Begriffe, ihre Denkweisen, gerade bei diesem intellektuell-konstruktiven Hervorprozessieren, Erarbeiten, Bearbeiten von literarischen Texten sofort mit ihrem Auftauchen und Bekanntwerden eine enorme Rolle zu spielen begonnen haben. Dichter sind ja keine naivenPhantasten; sie sind tendenziell in unserem Jahrhundert alle ‚poetae docti’, und keiner wird sich mehr so einfach ein poetisches Bild, eine Metapher, ein Symbol, einen Konflikt ‚einfallen’ bzw. den aufs Blatt geschriebenen Einfall so einfach stehen lassen, wenn er selbst mit seiner Deutung anfangen und sich selbst als einen vorbewußt-unbewußt Produzierenden präzise beobachten kann. Die Unschuld des Produzierens ist dahin, es öffnen sich Möglichkeiten der Selbstbeaufsichtigung, der Kontrolle, aber eben auch der Einverleibung, der Eingemeindung von Einsichten und Denkweisen der Psychoanalyse in die Techniken des künstlerischen Imaginierens und Schreibens. Die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht denkbar ohne die Psychoanalyse; daß in der Literatur um 1910 – wie wir alle wissen und wie es Virginia Woolf denkwürdig formuliert hat – „sich die menschliche Natur“ änderte, in Deutschland in der Prosa Alfred Döblins, Gottfried Benns und Franz Jungs etwa, hängt mit der Rezeption der Psychoanalyse zusammen. Das muß nicht heißen, daß die Autoren mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und mit verantwortlicher Genauigkeit viele psychoanalytische Texte studiert hätten. Künstler haben ein absolut amoralisches Verhältnis zu Materialien, also auch zu wissenschaftlichen Materialien, die sie expropriieren oder ausbeuten können, wenn es nur ihrem Werk dient, und einige wenige zentrale Begriffe, einige suggestive, neue Gedankenlinien eröffnende Schlagworte aus einer neu sich etablierenden Wissensdisziplin können explosiver und für die literarische Kreativität fruchtbarer sein als seriöse Kenntnisse. Die Erzähler des Expressionismus, der James Joyce des „Ulysses“, der Thomas Mann der zwanziger und frühen dreißiger Jahre – sie dürften in den wenigsten Fällen ein systematisches Wissen von Psychoanalyse gehabt haben; von den ersten Surrealisten wissen wir sogar ganz genau, daß ihr psychoanalytisches Wissen eher vage war und aus zweiter Hand stammte (zumindest zunächst) – und dennoch sind die Explosivität der Prosa des Frühexpressionismus, ihre jähen Einblicke in die Psyche, die Radikalität James Joyces bei der Darstellung des individuellen Gedankenstroms wie der kollektiven Halluzination, der Umgang Thomas Manns mit dem Mythos in den Josephsromanen nicht denkbar ohne Psychoanalyse.
Aber auch wenn es vielleicht die Analytiker kränkt: Von der Kunst her gesehen sind die Psychoanalyse und ihre Funde nur Hilfsmittel, nur Befreier von Denk- und Imaginationsschablonen; Psychoanalyse setzte bei den Surrealisten, diesich doch auch auf Sigmund Freud als verehrten Erzvater beriefen, etwas in Gang, führte zu Werken einer in so neues Gelände vorgetriebenen Ästhetik, daß Sigmund Freud, großgeworden mit einer konservativen, klassischen bzw. realistischen literarischen Ästhetik, sich nur schaudernd oder kopfschüttelnd abwenden konnte. Und welch eigenwillige Folgerungen Autoren der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts aus der Psychoanalyse ziehen konnten, war zu beobachten auch an Arno Schmidt und ist zu beobachten an der bedeutendsten Autorin, welche die deutschsprachige Literatur zurzeit hat, nämlich Friederike Mayröcker. Obendrein ist damit zu rechnen – und das wäre literarhistorisch einmal genauer zu untersuchen –, daß es Autoren gab und gibt, die sich, gerade weil es Psychoanalyse als auch erzählerisch sehr verführerische Methode und als Eröffnung. verfeinerter introspektiver Möglichkeiten gibt, konsequent und konstruktiv vom psychologischen Erzählen abgewendet haben. Das berühmteste und bedeutendste Beispiel hierfür ist wohl Samuel Beckett, an dessen Figuren herkömmliche psychologische Interpretation gar nicht mehr heranreicht,nicht zuletzt deshalb, weil Beckett sie dem entzogen, sie dagegen abgedichtet hat. Es wäre ein Test auf die Fähigkeiten einer psychoanalytisch angeleiteten Literaturwissenschaft, wie sie das Werk Becketts aufschlösse, ohne seinen Figuren wieder herkömmlicher Psychologie zu unterschieben. Und ein großes Beispiel hierfür ist sicherlich auch James Joyse‘ „Finnegans Wake“, wo es Individuen, umreißbare einzelne Figuren gar nicht mehr gibt oder sie doch prinzipiell mit anderen Figuren austauschbar sind. „Finnegans Wake“ ist ohne die Freudsche Theorie der Fehlleistungen, insbesondere des Versprechens, Verschreibens, Verlesens, nicht vorstellbar, es ist vielleicht die Apotheose dieser von Freud beschriebenen Akte – und kurioserweise sind doch die Beiträge der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zum Verständnis dieses Buches seltsam platt geblieben.
Robert Musil ist einer der Autoren, welche die Psychoanalyse vor große Schwierigkeiten stellte und zu einer langwierigen Revision ihres Schreibkonzeptes zwang. Ungefähr ab 1905 und bis in die frühen dreißiger Jahre nahm Musil psychoanalytische Schriften, meist Freuds, zur Kenntnis, beginnend wahrscheinlich mit einer Lektüre von Freud/Breuers „Studien über Hysterie“ im Jahr 1904, und noch für 1929 hält Karl Corino eine Lektüre der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ für wahrscheinlich (Corino, 1972). Daß diese Kenntnisnahme der Psychoanalyse eine große Rolle bei Musils Schreibschwierigkeiten spielte, nicht zuletzt auch in den Anfangszeiten der Niederschrift von „Der Mann ohne Eigenschaften“, hatte Johannes Cremerius bereits 1979 vermutet; Cremerius war es auch, der Musils Ableugnen einer extensiven Kenntnis der Psychoanalyse und ihres Einflusses auf sein Schreiben als eine Vermeidungs- und Verleugnungsreaktion deutete (Cremerius, 1979). Was Musil an der Psychoanalyse zu schaffen machte, war wohl die Einsicht, daß die Freudsche Analyse die führende Disziplin geworden war auf dem Feld individualpsychologischer Fallgeschichten, im Nacherzählenden bzw. der analytischen Nach-Konstruktion der psychologischen Dimension von Lebensgeschichten. Wie war es also für einen Schriftsteller noch möglich, oberhalb des Niveaus, das in dieser Hinsicht die psychoanalytischen Fallgeschichten gesetzt hatten, oder aber gänzlich anders von seelischen Vorgängen und von seelischen Zuständen bei Menschen zu erzählen? Denn wenn von der Psychoanalyse so viel an Präzision und Elaboriertheit der Darstellung von Menschen in all ihren seelischen Schichten geleistet worden war, wie konnte es dann die Literatur vermeiden, nur dilettantisch zu konkurrieren mit der Psychoanalyse bzw. deren Ergebnissen nur noch erzählerisch nachzulaufen? Eine große Zahl von Arbeiten Musils zwischen 1911 und 1942, von der Erzählung „Die Versuchung der stillen Veronika“ bis zur Bearbeitung des Geschwisterinzests in dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, den Musil bis zu seinem Tod nicht vollenden konnte, zeugt von dem Versuch, sich die Psychoanalyse erzählerisch nutzbar zu machen oder in die Schilderung von seelischen Zuständen und in erzähltechnische Verfahren auszuweichen, die außerhalb der Domäne der Psychoanalyse und ihrer Erklärungskraft lagen. „Ich werde einmal sagen müssen, warum ich für die ‚flache’ Experimentalpsychologie Interesse habe, und warum ich keines für Freud, Klages, ja selbst für die Phänomenologie habe“ (Musil, 1976, S. 948) – man braucht gar nicht unbedingt Musils eigene Rechtfertigung, um zu ahnen, daß diese Verleugnungsreaktion, die sich auch in anderen polemischen Notizen und Glossen Musils findet, wohl damit zusammenhängt, daß die „‚flache’ Experimentalpsychologie“ ihn als Schriftsteller eben nicht bedrohte, ihm noch erzählerischen Spielraum ließ, während die psychoanalytischen Fallgeschichten „psychologische Arbeiten sind, die wie Dichtungen sind. Es sind Beschreibungen pathologischer Seelenabläufe, die von einer wunderbaren Eindringlichkeit und so stark gleichnishaft sind […], daß der Zusatz von Deutung, der große Dichtungen aus ihnen machen würde, kaum entbehrt wird.“ Und auch wenn Musil betont, er sei eigentlich „kein Freund des psychologischen Romans“ (zit. nach Corino, a.a.O., S. 180f.), wird doch an diesem Zitat deutlich, wie er mit Bewunderung und Beklemmung die Nähe der psychoanalytischen Fallgeschichte, insbesondere auch in ihrer schriftstellerischen Raffinesse bei Freud, zum literarischen Erzählen empfand. Die große Leistung des Romans des 19. Jahrhunderts war ja, daß in ihm intuitiv und noch nicht von einer wissenschaftlichen Psychologie angeleitet sehr differenzierte Studien über die menschliche Psyche geliefert wurden, und dieses ganze Gebiet literarischen Schaffens sah Musil nun – wie viele andere Autoren auch – gefährdet bzw. zur Altmodischkeit verurteilt, demodé; damit sich abzufinden fiel ihm schwer.
Die Erzählung „Die Portugiesin“, erstmals 1924 erschienen in Musils insgesamt drei Erzählungen enthaltendem Band „Drei Frauen“ (1924), scheint mir ein Beleg für eine der Möglichkeiten, sich als Erzähler produktiv zur Psychoanalyse zu verhalten. „Die Portugiesin“ ist eine vergleichsweise ‚konventionelle’ Erzählung, konventionell gemessen nicht nur an zahlreichen Prosatexten der Expressionisten, sondern auch Musils; sie ist von einer – kennt man die Dynamik der Auseinandersetzung Musils mit Erzählmöglichkeiten in den zwanziger Jahren – überraschenden Meisterschaft, von großer Geschlossenheit und einer so bewundernswerten wie verdächtigen Abgedichtetheit gegenüber Irritationen. Aber indem ich die Erzählung so beschreibe und bewerte, greife ich schon voraus auf die Folgerung, die ich aus einer detaillierten Analyse dieses Erzähltextes ziehen möchte. „Namen haben’s in sich“, sagt Laurence Sterne zu Recht; betrachten wir also den Namen des männlichen Protagonisten der Novelle: „delle Catene“ oder „von Ketten“ heißt sein Geschlecht, das also weder dem Norden noch dem Süden, sondern ganz sich selbst gehört, am liebsten vollständig unabhängig von der Welt ist oder wäre. Mit solcher Namengebung scheint mir schon ein extrem narzißtischer Charakterzug der Familie angedeutet zu sein, machtpolitisch gesprochen:
ein Zug zur Autarkie. Als nächstes Kennzeichen derer von Ketten wird die ihnen eigene Kombination von Kraft und Intellekt bzw. Kraft aus Intellekt apostrophiert, die „allein aus ihren Augen und Stirnen zu kommen schien“. Intelligenz und Autarkiestreben derer von Ketten vereinigen sich auch in jener Maxime des Clans, die die Partner- bzw. Partnerinnenwahl regelt:
„ … sie holten ihre Frauen von weit her und holten reiche Frauen, um durch nichts in der Wahl ihrer Bündnisse und Feindschaften beschränkt zu sein“ (1924, S. 26).
Zu einer Krise – zu jener Krise, von der die Novelle „Die Portugiesin“ erzählt – kommt es dadurch, daß der jüngste der Herren von Ketten gegen den Verhaltenskodex, dem sich jedes männliche Glied in der Geschlechterfolge bisher offenbar unterwarf, verstößt. Er liebt seine Frau wohl zu sehr, und dies vielleicht gerade auch deshalb, weil seine junge Frau sich nicht ganz dem fügt, was der Clan derer von Ketten von seinen Frauen erwartet: sie bleibt während des Krieges, den er über Jahre zu führen hat, nachdem er sich beinahe ‚verlegen’ hatte, in seiner Nähe, auf seiner Burg:
„Er grollte seiner schönen Frau, weil sie ihn beinahe die Gelegenheit hatte verspielen lassen. So sehr gefiel sie ihm, der um einen Pferdehals zurück neben ihr ritt, wie immer; auch war sie ihm noch so geheimnisvoll wie die vielen Perlenketten, die sie besaß. Wie Erbsen hätte man solche Dinger zerdrücken können, wenn man sie in der hohlen, sehnengeflochtenen Hand hielt, dachte er neben ihr reitend, aber sie lagen so unbegreiflich sicher darin“ (a.a.O., S. 28).
Er möchte am liebsten über seine Frau herrschen, wie alle von Ketten über ihre Frauen geherrscht haben, notfalls gewalttätig: gegen ihre Schönheit, ihren Schmuck würde er am liebsten körperlich aggressiv werden, gegen die Perlen die Kraft seiner Hand einsetzen. Diese aber ruhen in ihrer Schönheit, und das macht sie so sicher; in ihrem Narzißmus – der natürlich auch der ihrer Trägerin ist -– sind sie unangreifbar, ja, dies macht sie gerade attraktiv. Das Bild der zu zerquetschenden Perlen ist natürlich auch eine Art Vergewaltigungsphantasie; die Symbolik von Perle und Muschel ist unübersehbar. Das Gegenbild hierzu ist ein anderes Wunschbild, das auftaucht, als die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Bischof von Trient plötzlich sich wieder und endlich mit Aussicht auf Erfolg stellt; das Hingerissensein von Weiblichem wird überlagert oder ersetzt von etwas anderem:
„Nur war dieser Zauber von der neuen Nachricht beiseite geräumt worden wie die Mummenträume des Winters, wenn die knäbisch nackten ersten sonneharten Tage
wieder da sind“ (S. 28).
Die Lust am Kriegführen ist die Lust, sich auf einen anderen innerlich nicht einlassen zu müssen, sondern ihn distanziert und gewissermaßen unintim töten zu können; so aber kann sich von Ketten seiner Frau gegenüber nicht verhalten, die ihn in eine gefährliche Sorte von Intimität zwingt, deren Gegenbild die leise angedeutete homoerotische Phantasie ist, die zugleich mit dem Gedanken an den Krieg aufsteigt. Die von Ketten hatten sich gepanzert, hatten individuelle Züge offenbar unterdrückt zugunsten der Anpassung an das, was alle von Ketten zu tun haben. Der Charakterpanzer – man ist versucht zu sagen: der Kettenpanzer – des jungen Herrn von Ketten aber scheint in Gefahr zu sein, indem eine Frau von außerordentlichem Format sich so verhält, wie es nicht vorgesehen ist. Die von Ketten sind angekettet und eingebunden in den Verhaltenscodex der Geschlechterfolge; der junge Herr ist der Gefesselte seines Geschlechts im Sinne seines Adelsclans bzw. von dessen Geschlechterfolge, und dann ist er natürlich auch der Gefesselte der Ketten seiner Frau; er ist ein Ketten, und sie hat Ketten. Den Panzer kann er sich glücklicherweise für den elfjährigen Krieg noch einmal umlegen, doch diese Stabilisierung bricht dann um so katastrophaler zusammen, als der Umriß und Identität verleihende Kampf vorbei ist: „Da stach ihn, als er heimritt, eine Fliege“ (a.a.O., S. 35). Der Blick dessen von Ketten geht während des Kampfes gegen den Bischof „so gradaus wie aus einem Helm hervor, auch wenn er keinen trug“ (a.a.O., S. 30) – der Helm als Teil der Panzerung richtet den Blick und bewahrt ihn vor irritierten Abschweifungen; als aber nach dem Krieg alle Panzerung abgelegt, alle Glieder ausgeschnallt werden können und der Harnisch nach dem Fliegenstich sofort aufgeschnallt werden muß, klappert die Panzerung
„wie eine losgerissene Dachrinne im Sturm. Er fühlte, daß das schwankhaft war, und lachte mit grimmigem Kopf über sein Geklapper; aber in den Beinen war er schwach wie ein Knabe“ (S. 35).
Der harte Ritter, den ein Fliegenstich aufs Krankenlager wirft; die Wolfsnatur, die plötzlich klapprig wird – das ist natürlich ein Schwank-Motiv, und was dann lebensgeschichtlich an dieser schwachen Stelle eintritt, was das schwächste Glied in der Reihe derer von Ketten trifft, ist die Regression auf den Status eines Kindes:
„Er schlief viel und war auch mit offenen Augen abwesend; wenn aber sein Bewußtsein zurückkehrte, so war doch dieser willenlose, kindlich warme und ohnmächtige Körper nicht seiner, und diese von einem Hauch erregte schwache Seele seine auch nicht. […] er wartete ab und antwortete auch nicht auf das Lächeln, das sich über ihn beugte, und die zärtlichen Worte“ (S. 36).
Der sich da auf dem Krankenlager wie in einer „Wiege“ fühlt, glaubt nun sogar zu bemerken, daß ihm der Kopf schrumpft:
„Er bemerkte auch spät erst, daß ihm seine Mütze zu groß geworden war. Die weiche Fellmütze, die immer etwas stramm gesessen hatte, sank bei einem leichten Zug bis ans Ohr herunter, das sie aufhielt. […] Sein erster Gedanke war, daß er sich vielleicht habe die Haare zu kurz scheren lassen, er wußte bloß im Augenblick nicht, wann, er fuhr heimlich mit der Hand hin, aber das Haar war länger, als es sein sollte, und ungepflegt, seit er krank war. So wird sich die Kappe geweitet haben, dachte er, aber sie war noch fast neu und wie sollte sie sich geweitet haben, während sie unbenutzt in einer Truhe lag […] denn kann denn ein Schädel kleiner werden?“ (S. 37/38).
Woher das Gefühl kommt oder ob der Kopf wirklich geschrumpft ist, wird offengelassen, aber die wiederholte beunruhigte manuelle Untersuchung des Kopfes durch den Herrn von Ketten deutet auf Potenzängste hin, auf das Gefühl kindlicher Impotenz in Zusammenhang mit seiner Regresston im Verlauf der Krankheit. Ein Hinweis auf seine in seinen Ängsten oder auch real geschwundene Kraft ist auch die Unfähigkeit, die Armbrust zu spannen, als er den Wolf umbringen will, und schließlich ist eines der deutlichsten Anzeichen für seine Regression auf kindliche Haltungen gegenüber seiner Frau und deren portugiesischem Jugendgespielen, daß er denen unwürdig-hilflos nachspioniert:
„Das drittemal lief er überhaupt nur den beiden nach, die abends noch in den Hof gingen; wenn sie an der Fackel oben auf der Freitreppe vorbeikamen, mußte ihr Schatten auf die Baumkronen fallen; er beugte sich rasch vor, als dies geschah, aber in den Blättern verschwammen die Schatten von selbst in einen“ (S. 38).
Die Portugiesin und ihr Freund werden für den kranken Herrn von Ketten wie Eltern, deren sexuellen Geheimnissen er als ausgeschlossener Dritter nachspürt. Die Regression von Kettens, seine Verwandlung ins Lachhafte, Machtlose zeigt sich an den Tierbildern und Tiervergleichen, die in seiner Nähe angesiedelt oder auf ihn zu beziehen sind. Zunächst ist er der Wolf, der den Bischof von Trient „umkreist“. Dann erhält die Portugiesin in der Zeit, als von Ketten im Kampf steht, einen „jungen Wolf aus dem Wald“ als Geschenk, den sie ihrerseits aufzieht (als sei er eines ihrer Kinder) und den sie andererseits
„liebte [ . . . ] weil seine Sehnen, sein braunes Haar, die schweigende Wildheit und die Kraft seiner Augen sie an den Herrn von Ketten erinnerten“ (S. 34).
Zur Zeit der Krankheit delle Catenes rückt der Wolf aber fast auf in die Position des neuen Gatten der Portugiesin, wird zum Rivalen des Herrn; zumindest empfindet dieser es so und läßt den Wolf umbringen. Seine Frau sagt ihm daraufhin den Kampf an mit der Drohung, sie werde sich aus dem Fell des getöteten Wolfes eine Haube machen lassen und ihm, von Ketten, „nachts das Blut aussaugen“ (a.a.O., S. 37). Die Portugiesin droht also damit, selbst zum Wolf, zum Wolfsmenschen zu werden, und kündigt damit den Kampf auf Leben und Tod an, auch wenn sie dabei lacht. Dies zu einem Zeitpunkt, wo statt des umgebrachten Wolfes schon ein anderer Rivale vor von Kettens Augen an der Seite der Portugiesin auftaucht, der Jugendfreund der Portugiesin:
„Er grüßte mit edlem Anstand und sprach Worte, die nach dem edlen Ausdruck seiner Mienen voll großer Liebenswürdigkeit sein mußten, indes der Ketten wie ein Hund im Gras lag und sich schämte“ (S. 37).
Die wölfische Natur aller Protagonisten ist inzwischen ausreichend signalisiert worden; Ketten aber besitzt davon nur noch die Schwundstufe, die Natur eines Hundes, und muß sich im Verlauf seiner Gesundung bzw. als seine Gesundung die wölfischen Fähigkeiten erst wieder erarbeiten. Die kleine Katze, die dann eines Tages vor dem Tor steht, ist das zweite Tier, das in dem seltsam stockenden Kampf zwischen dem Herrn von Ketten, seiner Frau und deren Jugendfreund auftaucht, und gewiß ist sie das mehrdeutigste, das besonders hochgradig determinierte Element der Erzählung. Sie „machte einen Buckel zum Willkomm“ (a.a.O., S. 40) – man fragt sich, wer hier wen bewillkommnet: Entbietet sie bei ihrer Ankunft einen Gruß den Burgbesitzern, oder heißt umgekehrt sie die Menschen willkommen? Daß sie einen Buckel macht, deutet nicht gerade auf das Gute an ihr und in ihr, macht vielmehr den Eindruck, als mache oder habe sie den Buckel einer Hexe. Aber sie entwickelt sich zu einem leidenden Kind, und wenn man sie zunächst mit dem Teufel assoziieren konnte, so wird ihr nun geradezu ein „Heiligenschein“ (a.a.O., S. 41) zugesprochen, und schließlich wird sie gar in der Nähe des weiblichen Schoßes angesiedelt:
„Die Portugiesin beugte sich zärtlich über das Geschöpfchen, das in ihrem Schoß auf dem Rücken lag und mit den winzigen Krallen nach ihren tändelnden Fingern schlug wie ein Kind, der junge Freund beugte sich lachend und tief über Katze und Schoß, und Herrn von Ketten erinnerte das zerstreute Spiel an seine halb überwundene Krankheit, als wäre die, samt ihrer Todessanftheit, in das Tierkörperchen verwandelt, nun nicht mehr bloß in ihm, sondern zwischen ihnen“ (S. 41).
Die kranke Katze liegt auf dem Rücken wie der kranke Herr von Ketten noch vor einiger Zeit; zugleich werden Schoß und Katze fast gleichgesetzt, und indem der Jugendfreund sich über die Katze beugt, beugt er sich auch über den begehrten Schoß der Portugiesin. Das Martyrium der Katze aber wird zu einem Akt der Stellvertretung, zu einem Martyrium als Opfer für die umgebenden Menschen; das Kätzchen ist fast ein Lämmchen, die „Räude“ aber, die die Katze bekommt, so etwas wie die in eine physische Krankheit konvertierte und verdinglichte moralische Krankheit der drei Menschen um sie. Begraben ist sie dann – nachdem die Portugiesin, die die Stärkste ist, angeordnet hat, daß die Katze erschlagen werde; von Ketten ist noch nicht wieder so stark – just an jenem „Grasfleck, auf den die Sonne schien“ (S. 43), auf dem früher der kranke von Ketten als Rekonvaleszent lag: etwas von Schuld und Gebrechen von ihm hat die Katze mit in den Tod genommen bzw. ist verschwunden durch ihren Tod. Die Hunde des Hofes haben immer noch ein unheimliches Gefühl an dieser Stelle, sie „sträubten das Fell und blickten schief zur Seite“ (S. 43), als sei der Platz verflucht, als gehe es da um vom Bösen. Psychoanalytisch könnte man sagen, die Katze sei ein Projektionsschirm für die an dem zentralen Konflikt Beteiligten: Das Böse, das Ekelhafte, das Zärtliche, das Hilflose, also alles, was an Aspekten des Menschlichen eine Rolle in dem Konflikt spielt und auf die eine oder andere Weise hinderlich ist oder weggewünscht wird, scheint in das Kätzchen zu wandern, in den Sündenbock, der das Böse mit sich wegträgt. Doch etwas an der Katze soll sogar in einem offenbar gesunden Sinn wiederauferstehen, und zwar in dem sich durch eine letzte Tat sich selbst beweisenden Herrn von Ketten, der in diesem Akt gesundet. Denn indem er die Felswand unter dem Schloß hinaufklettern will – die selbstmörderische Herausforderung eines Gottesurteils –, scheint ihm, „nicht er, sondern die kleine Katze aus dem Jenseits würde diesen Weg wiederkommen“ (S. 43). Was von der Katze würde gewissermaßen mit von Kettens Gesundung wiederkehren? Ich vermute, so etwas wie die Integration von Raublust und Zärtlichkeit, Kampfeslust und Bosheit und Anmut.
Übergehen wir an dieser Stelle jene literarische Reihe von Katzen, Katzenszenen, mit Katzen sich verbindender abergläubischer Vorstellungen, in der auch Robert Musils kleine Katze steht (2), deren Namen uns übrigens verschwiegen wird:
„Die kleine Katze hatte inzwischen einen Namen aus einem der Märchenbücher erhalten“ (S. 41).
Man gäbe etwas darum zu wissen, wie der Name lautet, weil man dann wohl auch einen Hinweis auf den literarisch-folkloristischen bzw. vielleicht geradezu mythischen Hintergrund der Katze bei Musil hätte. Hieß sie so ähnlich wie „Meerkatze“, wie die Portugiesin, die ja der Katze assoziiert wird, eine Meerkatze ist, da sie aus Portugal stammt? Wir sind beim Showdown zwischen den beiden Narzissen angelangt, nachdem die hergelaufene Katze – und eine solche hergelaufene Katze ist ja auch der Jugendfreund der Portugiesin, der in genau dem Moment verschwunden ist, da die Katze erschlagen wurde – begraben ist. Der gepanzerte Ritter und die kühle schöne Mondin, von der wir keinen Vor- und keinen Familiennamen wissen, weil sie jenseits ihrer Person nur „das andre“ (S. 33), also quasi weniger und mehr als ein Individuum ist, verleugneten Schwäche und Zärtlichkeit, als sie noch stark waren; der Ritter mußte für diese Verleugnung büßen, und weil er Schwäche höchsten Grades durchleben muß, als es wichtig wäre, stark zu sein, verliert er beinahe seine Frau. Während der Kämpfe mit dem Bischof kam er einmal einen Tag nach Hause:
„Als der Abschied kam, bat die Portugiesin, plötzlich von Weiblichkeit überwältigt, wenigstens jetzt seine Wunde waschen und ihr frischen Verband auflegen zu dürfen, aber er ließ es nicht zu; eiliger, als es nötig war, nahm er Abschied, lachte beim Abschied, und da lachte sie auch“ (S. 30).
Er lacht aus Scham und Verlegenheit darüber, daß seine Wunde ihn eben doch geschwächt, d.h. nicht vollkommen stark zeigt, und er lacht darüber, daß sie sich schwach gezeigt hat und impulsiv ein weiblich-mütterliches Mitleid verriet. Die geheime Abrede zwischen ihnen ist, daß sie sich einander nicht schwach zeigen, vielleicht sich sogar besonders hart zeigen. Da nun vor allem sie plötzlich sichtbar werden ließ, daß sie nicht unverwundbare, unerschütterbare Narzissesind, ihr Verhältnis zueinander also noch eine andere verborgene, nicht ausgelebte, verleugnete Seite hat, lacht er, noch verlegen und schon wieder, im Abschiednehmen, über die Verlegenheit hinweggekommen, über ihr Eingeständnis, und dann lacht sie auch darüber; sie hat sich gefangen und verspottet indirekt schon wieder, daß sie einen Moment die Haltung verlor, die stillschweigend zwischen ihnen vereinbart ist. Da er nun aber Spott über ihre sich plötzlich unkontrolliert zeigende Weiblichkeit gezeigt hat, wird sie ihrerseits sich nie mehr die Blöße geben können, sich über ihn zu beugen, um ihn zu verbinden und zu pflegen, wenn er einmal wirklich schwach ist; so gesehen, steckt in diesem Abschied der Keim der Unfähigkeit, sich aufeinander zuzubewegen, als er dann wirklich invalid ist: Er hat ihre Stärke provoziert, und beisammen sind sie erst wieder, wenn sie durch eine Feuertaufe hindurchgegangen sind. Die Novelle handelt nicht davon, daß zwei Eheleute ‚reif’ werden und ‚miteinander kommunizieren‘ können, sondern sie handelt, wesentlich weniger edel, davon, wie die zwei einander ebenbürtig werden, wie sie wieder auf einer gemeinsamenEbene ankommen, den Geschlechterkampf wieder als Kampf etablieren können. Wichtig für den letzten Akt seinerRehabilitation ist die Lage des Schlosses, und für das damit auch Gemeinte ist das Bild wichtig, das zur Kennzeichnung dieser Lage gebraucht wird:
„Wild stieg das Schloß auf. Da und dort saßen an der Felsbrust verkümmerte Bäumchen wie einzelne Haare“ (S. 28).
Sein Mannbarkeitsbeweis ist die Bezwingung eines Berges, der so schroff und spärlich behaart ist wie eine Männerbrust: dies ist die Kampf-Seite der Besteigung. Zugleich meint die Besteigung aber auch den symbolischen Erweis der Besteigungsfähigkeit einer Frau: von Ketten steigt den Berg hinauf, um zu seiner Frau zu gelangen, um bei ihr einzusteigen, um in ihren Kopf, ihr Bewußtsein wieder einzudringen, sich dort wieder als Alleinbewohner anzusiedeln:
„ … er mußte mindestens ein Drittel der Wand schon unter sich haben. Da wachte er, so schien es deutlich, auf und wußte, was er getan hatte. Unten ankommen konnte nur ein Toter, und die Wand hinauf der Teufel“ (S. 44).
Der Herr von Ketten gewinnt das Wachbewußtsein erst jetzt in vollem Maße zurück; handelte er zunächst noch unbewußt, so kann er nun alle Gewalt über sich wieder ausüben, hat er die Ich-Kontrolle wieder zurückgewonnen. Impliziert ist dabei auch die Überwindung der homoerotischen Komponente bzw. deren Integration – man erinnere sich der frühen Kennzeichnung erster sonniger Frühjahrstage und der Beschaffenheit der Felswand – und die kluge Umgehung eines „Überhangs“ in der Felswand kurz vor der Ankunft am Schloßfenster (mir scheint, daß dies eine Andeutung der Weiblichkeit der zu besteigenden Wand und Fassade ist: der Überhang ist eine/die Brust). Er hat den Dolch, das Mannbarkeitssymbol, bei sich, als er in das Zimmer des Portugiesen einsteigt; doch der Mord ist nicht nötig, das Zimmer ist leer, und der Herr von Ketten zögert noch einmal, in einem letzten Anfall von Unentschlossenheit, davor, das Schlafzimmer seiner Frau zu betreten: sie könnte ja mit dem Portugiesen verschwunden sein. Wie er im Steigen in der Felswand, so „fährt“, d.h. wacht die Portugiesin jetzt „auf“: vorher hat sie „im Traum darauf gewartet“, d.h. sich unbewußt gewünscht, daß er so entschieden als Mann das Frauenzimmer wieder betreten würde.
„Es war nichts bewiesen und nichts weggeschafft“ (S. 45).
Offenbar ist im Verhältnis der beiden zueinander wieder ein Punkt erreicht, wo nicht mehr belegt oder diskutiert werden muß, was in der Zeit der Krise ihrer Ehe vorgefallen oder nicht vorgefallen ist; der Portugiese ist nicht mehr da, ist also weder zu vernehmen noch zu bedrohen, und welche Rolle sie bei dem Weggang des Portugiesen spielte, bleibt auch in der Schwebe. Die Zusammengehörigkeit der beiden ist jetzt wieder so stark, daß sie die Vergangenheit aus Stärke ruhen lassen können, es findet kein ‚klärendes Gespräch’ o.ä. statt mit Aufarbeitung des Vergangenen, Unschuldsbeteuerungen ihrerseits usw., sie stehen einander einfach wieder ebenbürtig gegenüber. Und ebenbürtig heißt auch: von Ketten ist die Wand hinaufgekommen „wie der Teufel“, und sein Gegenstück ist sie, die Portugiesin, als Teufelin. Daß sie etwas Teuflisches in sich hat, belegt der erste Satz, den sie zu von Ketten spricht:
„Wenn Gott Mensch werden konnte, konnte er auch Katze werden“ (S. 45).
Die Blasphemie zeigt, daß ihrer beider Wolfsnatur wieder hergestellt ist: Sie haben Christus für sich sterben lassen und können nun getrost wieder zusammen gegen die Welt stehen und in der Intimität der ehelichen Gemeinschaft böse sein, denn der Geräuschvorhang des brausenden Bergflusses schützt sie vor Entdeckung. In die Welt des Sozialpflegerischen und der Eheberatung, auch in die Anweisung für fortschrittliches und menschenfreundliches Kommunikationstraining gehören die Implikationen dieses Schlusses sicher nicht. Musil scheint vielmehr in großer Unnachgiebigkeit daran festzuhalten, daß das Fundament einer Ehe auch die gemeinsame Bosheit sein kann und daß zu den Voraussetzungen einer
Ehe so etwas wie Ebenbürtigkeit gehört, eine prekäre und nicht unmittelbar moralische Balance dessen, was zwei Menschen in eine Ehe einbringen. Robert Musil hat, wie Paul Requadt schon 1954 ganz richtig bemerkt hat, keine psychologische Ehenovelle geschrieben, sondern er hat überraschenderweise in seine Novelle geradezu etwas Metapsychologisches eingeführt oder in Betracht gezogen, daß es nämlich jenseits der Komplikationen der in einer ehelichen Verbindung aufeinandertreffenden individuellen Psychen ein Element eines nicht psychologisierbaren und auch nicht psychotherapeutisch und psychokathartisch auflösbaren unbarmherzigen Geschlechterkampfes gibt und eine stabile eheliche oder eheähnliche Verbindung nicht weit entfernt von einem Waffenstillstand anzusiedeln ist, der immer neu erreicht bzw. gehalten werden muß, weil er immer bedroht ist. Der Herr von Ketten und die Portugiesin sind nicht edlere und geistigere Wesen geworden, sondern sie haben ihren Pakt erneuert. Das Überraschende, das in gewissem Sinne Lustige, vor allem aber das die abgründige freche Blasphemie des letzten Satzes der Portugiesin Belegende scheint mir dabei, daß dieser Satz die Abwandlung eines Satzes von Novalis ist:
„Wenn Gott Mensch werden konnte, konnte er auch Stein, Pflanze, Tier und Element werden, und vielleicht gibt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung in der Natur“ (1969, S. 556).
Was der Satz bei Novalis meint, braucht uns hier nicht zu interessieren; wichtig ist, daß Musil aus diesem Satz den Begriff und die Möglichkeit der Erlösung strich und ihm eine Wendung ins Lästerliche gab, oder vielleicht besser: ins Zynische; daß an Gottes Erlösertat aber kein Zweifel geäußert wird und ihre positiven Folgen frech-fröhlich von der Portugiesin gepriesen und genossen werden, ist das Teuflische an dem Satz und seiner Autorin. Aber was Robert Musil von Charakter und Wesen der Menschheit insgesamt hält, steckt ja auch in dem atemberaubenden Satz anläßlich des Psychopathen und Sexualmörders Moosbrugger aus dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“:
„… wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehen“ (Musil, 1952, S. 76).
Ich hoffe fast darauf, daß die Beleuchtung der Novelle „Die Portugiesin“ mit dem Tiefstrahler der Psychoanalyse etwas zu gut aufgeht, daß die Bilder, die Symbole, die Vergleiche fast zu sehr wie aus dem Lehrbuch bzw. wie aus den psychoanalytischen Lehrbüchern im engeren wie im weiteren Sinne des Wortes wirken. Denn ich meine, daß „Die Portugiesin“ ein instruktiver und – als Erzählung – geradezu brillanter Beleg ist für eine Möglichkeit, eine extreme, späte Möglichkeit, Psychoanalyse literarisch einzusetzen, ohne die herkömmliche Form der Novelle zu zersetzen, ohne die herkömmliche Strukturierung von Texten zu sprengen. „Die Portugiesin“ ist ein Beispiel für die Legierung konventionellen, d.h. individuelle Charaktere und deren feine Auskleidung und Begründung im Sinne psychologischer Wahrscheinlichkeit bewahrenden Erzählens mit einer Symbolik, einer Bilderwelt für das Innere und einer Einsicht in die destruktiv-aggressive Seite der menschlichen Natur, die stark psychoanalytisch beeinflußt sind und mit größter Wahrscheinlichkeit bewußt und aus detaillierter Kenntnis psychoanalytischer Psychologie stammen. Hier erprobte Musil eine epische Psychologie, mit der er weder hinter den Stand der Psychologie (sprich: der Psychoanalyse) als Wissenschaft zurückfallen noch zugunsten des Erzählmodells der psychoanalytischen Fallstudie samt begrifflicher Durchdringung bzw. begrifflichem Resümee auf das künstlerische Erzählen verzichten muß. Das Operieren mit einer Symbolik, die uns aus der frühen Psychoanalyse, insbesondere aus der „Traumdeutung“, bekannt ist, ist nicht auf das Unbewußte des Autors rückführbar, sondern entstammt kalkuliertem Einsatz des aus psychoanalytischer Lektüre Angeeigneten. Daher auch das Überperfekte des Textes, in dem alles fast zu genau und zu deutlich zueinander paßt, und daher das leise Komische, Ironische dieses Textes, der von so absoluter Gekonntheit ist, daß die Perfektion etwas gar zu Demonstratives hat, jene Perfektion in einem konventionellen Sinn, die Musil dann unter Qualen aufs Spiel setzte, als er „Der Mann ohne Eigenschaften“ nach ganz anderen Strategien des Einsatzes bzw. der Berücksichtigung und Vermeidung von psychologisch-psychoanalytischem Erzählen voranzutreiben versuchte. Überdies scheint mir der Einsatz von Motiven bzw. Denkweisen aus dem Gebiet des Aberglaubens und der Religion, die ihrerseits nicht analytisch gedeutet bzw. relativiert werden, der Bemühung zu entspringen, etwas Nichtpsychologisierbares in die Erzählung einzuführen, weil sonst die Substantialität des Erzählten zerfiele, alles sich in Psychologie auflöste.
Daß eine avancierte Psychologie eines Tages den Romanschreibern in die Quere kommen könnte, die – soweit sie der dominierenden Richtung des psychologischen Realismus angehören – gerade die Kenntnis des menschlichen Herzens ins Zentrum ihres Schreibens stellten und auf diesem Gebiet ja die tiefsten Einsichten in den Menschen hatten, bevor die Psychoanalyse die intuitiv-introspektiven Einsichten dann obendrein ab ca. 1900 auch noch auf den Begriff brachte, daß also eine vorangetriebene, differenzierte, auf dem Material zahlreicher Fälle aufbauende Psychologie einen Teil dessen, was wir als Erzählkunst bezeichnen, überflüssig machen oder zu ganz neuen Rechtfertigungs- und Schreibstrategien zwingen würde – wir können dies als ‚Dr. Musils Dilemma’ bezeichnen –, hat übrigens im Jahr 1782 Karl Philipp Moritz, der Herausgeher des Magazins für Erfahrungs-Seelenkunde schon geahnt. Im „Vorschlag“ zu seinem dann von 1783 bis 1793 erscheinenden Magazin, das auf weite Strecken eine Fallstudien-Sammlung darstellt – darauf bezieht sich der Terminus „Erfahrung“ (Seelenkunde), der den Gegensatz zu einer spekulativen bzw. deduktiven Psychologie bezeichnen sollte –, heißt es in scharfsichtiger Vorwegnahme der Probleme, die dann den Autoren des 20. Jahrhunderts durch die Existenz der Psychoanalyse und ihrer Einsichten sich stellten:
„Wer wird nicht gern einer so wichtigen Wissenschaft, als die Erfahrungsseelenkunde ist, seinen Zol abtragen? … Kömt eine solche Wissenschaft zur Vollkommenheit, so wird man einmal die Kentniß des menschlichen Herzens mehr aus der ersten Quelle, als aus Erdichtungen schöpfen können. Das Nachbeten und Abschreiben in den Werken des Geistes wird aufhören, und der Dichter und Romanenschreiber wird sich genöthigt sehn, erst vorher Erfahrungsseelenlehre zu studiren, ehe er sich an eigene Ausarbeitungen wagt“ (Moritz, 1782, S. 156).
* Schriftl. und überarb. Fassung eines frei gehaltenen Vortrags im Rahmen der Veranstaltung „Vom Nutzen und Nachteil der Psychoanalyse für die Literatur – und umgekehrt“ am 13.11.1992 im Literaturhaus Frankfurt a.M.
Anmerkungen
(1) Zu Umfang und Zeitpunkt der Beschäftigung Musils mit der Psychoanalyse vgl. zuletzt Sabine Kyora (1992): Psychoanalyse und Prosa im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler, 162- 167.
(2) vgl. z.B. die Geschichte von dem der Hexerei verdächtigten Meretlein in der 1. Fassung von Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ (1854/55). Das Mädchen soll begraben werden, schreit aber im Sarg, man öffnet, sie richtet sich auf: „Das Mägdlein aber hat sich bald ermannt und ist über den Kirchhof auf und davon und zum Dorf hinaus gesprungen wie eine Katz, daß alle Leute vor Entsetzen hingelaufen sind und ihre Thüren verriegelt haben“ (S. 98). – In Kellers Gedicht „Ehescheidung“ wird eine Katze, die der Mann am Kopf und die Frau am Schwanz hält, vom Pfarrer mit einem Küchenmesser entzweigeschnitten. „ ‚Es trennt, es trennt, es trennt der Tod!’ / Da waren sie wieder frei“. – Von einem bizarren, hysterischen Ausbruch von Gewalttätigkeit gegen Katzen berichtet Robert Darnton (1984). Man vgl. außerdem den literarisch wie folkloristisch und psychologisch außerordentlich ergiebigen Artikel „Katze“ bei Bächthold-Stäubli (1987).
Literaturangaben:
Bächthold-Stäubli (1987): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 4. Darin: „Katze“. Berlin und New York: de Gruyter, Sp. 1107-1134
Corino, K. (1972): Oedipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse. In: Bauer, U. & Goltschnigg, D. (Hrsg.): Vom „Törleß“ zum „Mann ohne Eigenschaften“. München & Salzburg: Fink, 123-235
Cremerius, J. (I979): Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus ‚poeta doctus’ nach Freud. Psyche, 33, 733-772
Darnton, R. (1984): Workers Revolt: The Great Cat Massacre of the Rue Saint-Severin. In: Ders.: The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History. New York & London: Allen Lane, 75-107
Keller, G. (1854/55): Der grüne Heinrich. Frankfurt: Deutscher Klassiker-Verl. 1985
Kyora, S. (1992): Psychoanalyse und Prosa im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler
Moritz, K.P. 1782): Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde. In: Nettelbeck, U. (Hrsg.): Karl Philipp Moritz. Lesebuch. Nördlingen: Greno 1986
Musil, R. (1924): Drei Frauen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenb. 1980
– (1952): Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von A. Frisé. Hamburg: Rowohlt
– (1976): Tagebücher. Bd. I. Hrsg. A. Frisé. Reinbek: Rowohlt.
Novalis: Werke. Hrsg. von G. Schulz. München: C.H. Beck 1969
Requadt, P. (1954/55): Zu Musils „Portugiesin“. Wirkendes Wort, 5, 152-158
Jörg Drews: Die Rettung konventionellen Erzählens durch die Psychoanalyse. Über Robert Musils Novelle „Die Portugiesin“. In: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jg. VIII, 1993, 2, S. 133-145.