Jörg Drews: Aus dem Leben eines Studienreferendars. Wer auf die Schule immer nur schimpft, sieht vieles falsch
Die Referendarzeit beginnt gewöhnlich mit einem Schock. Da flattert einem, normalerweise ein paar Wochen nach dem Staatsexamen, ein Brief des Kultusministeriums ins Haus, den so mancher nur nach tiefem Durchatmen öffnet. Es hängt allerlei davon ab, ob man nun den Heimat- oder Studienort wechseln und in eine fremde Stadt zum pädagogischen Seminar ziehen muß. Man darf wohl Wünsche äußern, wo und an welcher Schule man den Vorbereitungsdienst ableisten möchte, doch die Wege des Kultusministeriums sind wunderbar.
Die Umstellung vom Studentenleben aufs Berufsleben ist tiefgreifend und für viele Referendare zunächst deprimierend.
Das fängt bei Kleinigkeiten wie der Kleidung an: Jeden Morgen soll man sich nun ein weißes Hemd anziehen und den Schlips vorbinden, wo man sich seit Jahren im Pullover und Manchesterhosen wohl gefühlt hat und vielleicht sogar grimmige Verachtung für „korrektes“ Äußeres hatte, das einem der Inbegriff von genormter Langeweile schien; als Student genießt man ja nicht nur die akademische, sondern auch eine fast künstlerische Freiheit im Lebensstil und Kleidung.
An Pünktlichkeit, an allmorgendliches pünktliches Erscheinen an einem Arbeitsplatz muß man sich auch erst wieder gewöhnen; insbesondere die Geisteswissenschaftler, in deren Seminaren und Instituten es ja noch nicht mit der fabrikmäßigen Disziplin von Industriebetrieben hergeht, die mehr und mehr bei den Naturwissenschaftlern Einzug hält, müssen sich da umgewöhnen. Jeden Morgen hat man um 8 Uhr zu erscheinen; mit endloser nächtliche Lektüre ist es aus, und das ist besonders für die schmerzhaft, die nicht nur ein Brotstudium betrieben, sondern sich ihrem Fach mit Haut und Haaren verschrieben hatten – dem Fach, und nur in den seltensten Fällen dem folgenden Beruf.
Man muß sich also eine Maske zulegen, eine Maske übrigens, deren man sich desto stärker bewußt ist und über die man desto ironischer spricht, je näher man noch der Studienzeit ist, die Maske dessen, der nun einem Stand angehört, für den staatserhaltende Gesinnung Pflicht ist: dem Stand des Beamten. Man schwört auf das Grundgesetz, tauscht einen Händedruck mit dem Oberstudiendirektor und ist nun Studienreferendar, Beamter auf Widerruf.
Die erste große Überraschung für mich waren die Lehrer, die ich in meiner Referendarzeit antraf. Vielleicht hängt’s damit zusammen, daß ich nun selbst dazu gehöre und nicht mehr, nach dem Freund-Feind-Schema der Schüler auf der „anderen Seite“ stehe. Auf jeden Fall erschienen mir die Lehrer weitaus weniger autoritär, verknöchert und skurril, als ich sie in Erinnerung hatte.
Das ist eigentlich eine Ansammlung von recht normalen, durchschnittlichen Damen und Herren, mit höflichen Umgangsformen, hilfsbereit und arbeitsam, dachte ich mir, als ich mich zum ersten Mal wieder im Lehrerzimmer, im „Olymp“ aufhielt, wo ich zum letzten Mal gewesen war, als ich als Obersekundaner mit einigen Kameraden vor versammeltem Lehrerrat zu einer Schulstrafe verdonnert worden war.
Bei aller Sympathie mit den Rebellen unter den Schülern: Als ich auf dem Teach-in des SDS in Baden-Baden Anfang Januar ganz summarisch von der „Unterdrückung“ der Schüler durch die Lehrer hörte, musste ich unwillkürlich grinsen. Nicht, dass es dergleichen nicht gibt, nicht, dass ich nicht Schulen nennen könnte, wo wirklich ein ekelhafter Terror herrscht – aber ganz allgemein von „Unterdrückung“ der Schüler durch die Lehrer oder die Schule zu reden, halte ich nicht für gerechtfertigt. Der Termmus „Unterdrückung“ ist viel zu grob, um bestimmte — tatsächlich vorhandene — Sachverhalte zu decken. Die Schüler scheinen mir heute weniger unter den Lehrern zu leiden, als vielmehr zusammen mit diesen unter dem Mangel an Lehrern, dem Mangel an modernen Klassenräumen und Einrichtungen und an den übergroßen Klassenstärken.
Theoretisch wußte ich’s schon, aber die Praxis hat es mir nochmals gezeigt: Eine Klasse mit 12 oder 15 Leuten wird kaum ein Lehrer autoritär führen, aber was mache ich, wenn ich 35, 40 oder 45 Köpfe vor mir habe, die von der normalen Unruhe der Vorpubertät oder Pubertät erfüllt sind? Wenn man daran festhält, daß auch unter miesen Umständen auf jeden Fall gelernt und gelehrt werden soll, so muß ich mit etwas mehr Befehl und Autorität arbeiten, als mir selber lieb ist.
In jedem Betrieb, in jedem Beruf gibt er gute, mittlere und schlechte Leute. Aber ich glaube wirklich sagen zu können, daß insgesamt die Zeit des tyrannischen Paukerregimes, die Zeit der Professoren, die etwa Hanno Buddenbrook quälten, vorbei ist: Weder habe ich selber solche wahnwitzigen Willkürhandlungen und Zornesausbrüche erlebt, wie sie mir von Lehrern aus meiner Schulzeit noch erinnerlich sind, noch haben mir meine Referendar-Kollegen mit irgend relevanter Häufigkeit davon berichtet.
Kontrapunkt und Apropos zu dem eben Gesagten: große Aufregung im Lehrerzimmer. Ein Oberstudienrat empört sich darüber, daß in Frankfurt eine Abiturientin eine Rede mit dem Thema „Aufforderung zum Ungehorsam“ gehalten habe — „… und die Hamm-Brücher hat in der ersten Reihe gesessen und noch Beifall geklatscht!“ Aber der Oberstudiendirektor Gehr aus Amberg habe es ihr gegeben, und wo kämen wir da hin, und das Ganze erscheine ihm überhaupt symptomatisch, wo wir sowieso schon so viele Disziplinprobleme an der Schule hätten.
Ich könnte mich einschalten und etwa sagen, das Thema der Rede sei, um genauer zu zitieren, ja gewesen: „Erziehung zum Ungehorsam als Aufgabe einer demokratischen Schule“, und das sei doch schon ein kleiner Unterschied. Aber ich will mal anhören, wie sein Ausbruch verläuft, und notiere mentaliter: Die Frau Hamm-Brücher könnten die meisten Lehrer auf dem Brot mit Kraut fressen. (Warum, ist mir nie klar geworden — eigentlich müßten sie in ihr doch eine Verbündete sehen). Der Begriff der civil disobedience, des zivilen Ungehorsams, ist in Deutschland nicht heimisch. Bei „Ungehorsam“ fallen vielen Leuten nur rüpelhafte Aufsässigkeit im Unterricht und Flegeleien ein; daß es eine höhere Art von Ungehorsam gibt, der eine demokratische Tugend ist, und daß dieser Ungehorsam gemeint war, kommt ihnen nicht in dem Sinn.
Übrigens hat sich eben dieser Lehrer kurz vorher, anläßlich eines Anpfiffs, den er einer Prima verpaßte, damit gebrüstet, daß sie, die Schüler, noch nichts seien und nichts geleistet hätten, während er Offizier gewesen sei und in einem Buch mit Kriegserinnerungen eines anderen Offiziers als „guter Kamerad“ bezeichnet werde.
Schon im zweiten Referendarjahr beobachte ich an mir selber, wie die ersten Lücken im Wissen entstehen, weil der tägliche Betrieb zu zuviel Zeit wegnimmt. Das ist ein höchst schmerzhafter Vorgang, wenn man merkt, daß man von der Wissenshöhe, auf der man sich zur Zeit des Staatsexamens oder der Promotion befand, allmählich herabsinkt und diesen Vorgang nur mühsam verlangsamen kann.
Ich möchte noch immer an der Vorstellung festhalten, daß ein Germanist fortlaufend eine umfangreiche Lektüre in seinem Fach betreiben sollte, daß er entschieden mehr wissen muß, als er gleich in der Schule anbringen kann. Die Schüler merken, wie breit das Wissen und die Interessen eines Lehrers sind, und sie verzeihen eher eine pädagogisch nicht ganz ausgefeilte Stunde, die ihnen Anregungen gibt, als eine Darbietung, die routiniert auskalkuliert und doch ohne spürbaren Mitteilungswillen des Lehrers verläuft.
Was übrigens den Beruf des Lehrers so anstrengend macht — wenigstens empfinde ich das so —, ist die Notwendigkeit, dauernd Wissen zu reproduzieren, zu reden, von sich zu geben, zu wissen, mehr zu wissen, besser zu wissen, ohne zugleich ausreichend Zeit zu haben, um den „Tank nachzufüllen“. Adorno hat auf das Problem in seinem ausgezeichneten Vortrag „Tabus über dem Lehrberuf“ mit den Worten hingewiesen, man müsse bei der Reform der Referendarausbildung einmal „darauf achten, wieweit der Begriff der schulischen Notwendigkeit geistige Freiheit und geistige Bildung unterdrückt“.
Über die „Bildungskatastrophe“, die angeblich droht, kann ich nur noch lachen. Sie ist längst eingetreten. Wenn eine 7. Klasse (= 3. Oberschulklasse oder, nach alter Terminologie, Quarta) 49 Schüler hat, denen dann Deutsch oder Englisch beizubringen wäre, dann ist das bereits eine Katastrophe.
Das Wort erweckt falsche Vorstellungen. Man denkt da an ein allseits leicht bemerkbares, öffentliches, schlagartiges Ereignis. Das ist verkehrt; die Bildungskatastrophe ist ein schleichender Vorgang, etwas, das lange und langsam sich fortfrißt, kaum bemerkt und ganz unsensationell.
Wenn Studienreferendare schon in Klassen mit bis zu 50 Schülern unterrichten müssen; wenn Referendare (entgegen den Ausbildungsbestimmungen) Anfangsunterricht erteilen und Klassenleiter sein müssen; wenn Referendare durch die Lande geschickt werden, um die allernötigsten Lücken zu füllen und in manchen Fällen überhaupt eine gewisse Kontinuität des Unterrichts, den Schein derselben wahren zu helfen; wenn — nicht nur in naturwissenschaftlichen Fächern, sondern auch in Deutsch- und Englisch-Klassen — wochenlang der Unterricht ausfällt oder abwechselnd von bis zu vier verschiedenen Lehrkräften unterrichtet wird, dann ist die Katastrophe bereits eingetreten.
Zu den unangenehmsten Seiten des Referendardaseins gehört — wenigstens im zweiten Abschnitt der in Bayern zweijährigen Ausbildung — die Bezahlung. Was der Staat hier betreibt, ist Ausbeutung. Zur Zeit sind (nach Angaben des Bayerischen Philologenverbandes) in Bayern 792 Referendare mit Beschäftigungsauftrag an einer Schule eingesetzt. Das heißt, sie geben zwischen 15 und 18 Stunden Unterricht, leisten also drei Viertel von dem, was ein Studienrat an Stunden zu halten hat. Zwar gehört dieses zweite Referendarjahr nominell zur „Ausbildung“. In Wirklichkeit aber hält der Referendar weitgehend völlig selbständigen Unterricht, der kaum noch überwacht und höchstens einmal im Monat von einem sogenannten „Seminartag“ unterbrochen wird, an dem der Referendar zu seiner Seminarschule zurückkehrt.
Für diese Arbeit bekommt ein Referendar 438 Mark Unterhaltszuschuß und 113 Mark für den Beschäftigungsauftrag, das sind also 552 Mark brutto. Ein Hilfsarbeiter bekommt mehr. Der Staat nützt hier die Zwangslage von Leuten aus, die sich diese miserable Bezahlung gefallen lassen müssen, weil sie als Beamte nicht streiken dürfen, und die sich eben damit trösten müssen, daß sie nach dem zweiten Staatsexamen dann mehr verdienen werden. Nach einer Berechnung des Bayerischen Philologenverbandes, die darauf basiert, daß 18 Wochenstunden mit drei Vierteln des Gehaltes eines Studienassessors zu vergüten wären — und das ist ja nicht mehr als recht und billig, wenn man bedenkt, daß an vielen Schulen ohne die Referendare der Unterricht völlig zusammenbräche — spart der Staat damit jährlich über 3,8 Miliionen Mark.
Am wichtigsten scheint mir, daß die durch das Studium und das erste Jahr der Referendarzeit (das nun wirklich Ausbildungszeit ist) schon abnorm verlängerte Abhängigkeit des jungen Akademikers vom Elternhaus durch diese schäbige Entlohnung noch perpetuiert wird; man leistet schon volle Arbeit und steht finanziell noch immer unselbständig da, muß sich weiter von den Eltern Geld erbitten und sich mit Kleidung oder anderen, aufwendigeren Dingen beschenken lassen. Für das Lebensgefühl des jungen Lehrers ist es deprimierend, daß er noch in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts in einer möblierten Bude sitzt, sich keinen Anzug kaufen kann, ohne vorher die Eltern um einen Zuschuß zu bitten, und daß er schließlich nicht eine Mark zurücklegen kann.
Ich gebe Deutsch in einer 5. Klasse. Die 35 Sextaner sind eine liebenswürdige Bande, äußerst lebhaft, lernwillig und wißbegierig. Das Unterrichten ist ein Vergnügen; man sieht die Fortschritte vor seinen Augen an der sich verbessernden Interpunktion, Orthographie und Ausdrucksfähigkeit. Die Schüler kommen alle vom Land, bilden eine sogenannte „Fahrschülerklasse“, und der Respekt, den sie haben, mag mit der ländlichen Haltung vor dem „Herrn Lehrer“ zusammenhängen.
Hier erfahre ich zum erstenmal, was bei bestimmten Fällen von Schulversagen vorliegt. Ich unterhalte mich mit einem Schüler, der sehr schlechte Leistungen zeigt, frage ihn nach seinen Lebensverhältnissen, schließlich nach Vater und Mutter, und da laufen ihm plötzlich die Tränen runter: Die Mutter sei vor einigen Jahren einfach fortgegangen, er habe nichts mehr von ihr gehört, aber später, wenn er groß sei, wolle er sie besuchen. Der Vater habe sich inzwischen eine neue Frau genommen, und mit dieser Stiefmutter komme er nicht gut aus, die habe kein Verständnis für ihn.
Als Lehrer steht man solchen Fällen oft hilflos gegenüber und kann kaum etwas tun; der Vater kommt vielleicht einmal in die Sprechstunde, aber das ist schon unwahrscheinlich, man bittet ihn dann, dem Kleinen etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ihm einen Platz zum ruhigen Arbeiten zu schaffen. In einem anderen Fall erscheint ein Vater in der Sprechstunde, wortkarg, schlecht rasiert, mit verkniffenem Gesichtsausdruck, und schlagartig wird einem klar, warum sein Sohn verschüchtert, nervös und phantasiearm ist. Wenn man ihm auch noch sagen muß, daß sein Sohn im Moment nicht sehr gut stehe, kriegt man fast Angst um den Jungen. Wie soll man den Kindern helfen, wenn sie solche Eltern haben?
Die Startchancen der Jungen für die höhere Schule sind extrem ungerecht verteilt.
Da ist einmal das häusliche Milieu. Sehen wir von schweren familiären Zerwürfnissen ab, so bleibt noch genügend anderes, was seine Wirkungen zeitigt, zum Beispiel der primitive Wortschatz der Eltern, durch den der Schüler fast automatisch im Hintertreffen ist, wenn die anderen schon einen breiteren Wortschatz haben.
Außerdem: Schüler von einklassigen Dorfschulen sind eindeutig benachteiligt; ihre Kenntnisse sind durchschnittlich geringer, die Orthographie schlechter. Haben sie den Sprung an die höhere Schule geschafft, so beginnen neue Schwierigkeiten für sie: jeden Morgen müssen sie in aller Herrgottsfrühe aufstehen, manche müssen Fahrrad, Bus und Bahn benutzen, bis sie in der Schule sind, während andere gerade um die Ecke wohnen und erst eine halbe Stunde vor Schulbeginn aufstehen müssen. Da muß so ein Knirps also um 6 Uhr aufstehen und hat nur einen Tag in der Woche, an dem er ausschlafen kann. Und nach der Schule kommt er erst um 3 Uhr oder manchmal noch später nach Hause. Den Aufenthalt in einem Schülerheim möchte man ihnen aber andererseits auch nicht wünschen; da müßten sie sich an eine ganz neue Umgebung gewöhnen, fern von den Eltern, ohne die alten Spielkameraden (von denen sie sich bisweilen ohnehin oft schmerzlich entfernen; in mehreren Aufsätzen fand ich die Klage, daß sie ihre Freunde verloren hätten, weil sie jetzt aufs Gymnasium gingen).
Die Kehrseite der ländlichen Schulfreudigkeit ist übrigens oft ein übergroßer Ehrgeiz: Für die Eltern ist es eine Prestigeangelegenheit geworden, daß der Junge gut durchkommt, und nun wird er vorwärtsgetrieben. Aus Befragungen von Schülern weiß ich, daß die Probezeit am Anfang der höheren Schule für viele Schüler eine schwere Belastung ist. Da muß man dann bisweilen davor warnen, die Schule allzu ernst zu nehmen.
„In der pause rauchen die lehrer filterzigaretten und denken sich noten aus“, heißt es so lustig bei H. C Artmann in „fleiß und industrie“. In der Pause: So idyllisch geht’s da meist nicht zu, auch wenn im Lehrerzimmer in der Tat heftig geraucht wird. An vielen Schulen gibt es nur eine Pause am Morgen; da stürmen die Studienräte herein, die Kaffeemaschine wird angeworfen, man prüft in seinem pigeon hole nach, ob irgendeine Notiz oder ein Rundschreiben drin ist, man wechselt die Bücher aus, schaut, ob man für eine Vertretungsstunde eingeteilt ist, und studiert das schwarze Brett. Der Chef kommt herein, ruft mit Stentorstimme: „Meine Damen und Herren!“ und verkündet irgendwas von allgemeinem Interesse, weil die Pause der einzige Moment am Vormittag ist, wo er sein Kollegium fast vollzählig beisammen hat. Dann klingelt’s wieder, man drückt die Zigarette aus, kippt den Kaffee runter, schnappt die Bücher und Zettel für die nächsten Stunden.
Noten festsetzen: Ich hatte aus meiner Schulzeit noch immer die Vorstellung, daß Noten entweder recht gedankenlos und mechanisch oder aber mit bösartigen Hintergedanken verteilt werden, insbesondere bei Schülern, deren Versetzung irgendwie gefährdet ist. Ich wurde eines Besseren belehrt. Angestrengt und geduldig, voller Skrupel und Mildherzigkeit debattierten die Lehrer die entscheidenden Noten in Zweifelsfällen; so anständig wie möglich suchte man das Dilemma zu bewältigen, daß die Schule schließlich nicht ein psychotherapeutisches Sanatorium ist, daß man sich also nicht dauernd damit aufhalten kann, daß ein Schüler „eigentlich“ recht intelligent sei, aber eben doch dauernd 5 und 6 schreibt — daß man aber andererseits nicht mit kalter Mechanik benoten kann und es schließlich auch einen pädagogischen Aspekt bei der Notengebung gibt, unter dem man dann die Bedingungen des Zustandekommens schlechter Noten und die persönliche Lage eines Schülers berücksichtigen kann.
Was ich bestimmt nicht werden mochte: Oberstudiendirektor. Ich habe deren Tätigkeit an zwei Schulen beobachtet und mir von anderen Referendaren berichten lassen. Der Direktor ist für alles da, er gibt selber Unterricht, ist der Schuljurist, Organisationsleiter, Schlichter von Streitfällen, Verwaltungsbeamte und Repräsentant der Schule; wenn die Sekretärin krank ist, stellt er auch noch seine eigene Schreibkraft dar, und obendrein muß er mit dem Ministerium um die Zuweisung neuer Lehrkräfte rangeln. Das Arbeitspensum ist enorm und umfaßt dabei Gebiete, deren Beherrschung er nicht gelernt hat und die durchaus fachfremd sind: Verwaltungsrecht etwa ist eine komplizierte Materie, die weder mit dem Fach, das der Mann mal studierte, noch mit Pädagogik etwas zu tun hat.
Der beste Chef ist immer noch der, den der einzelne Schüler und Lehrer am wenigsten spürt, derjenige also, der sich als der oberste Verwaltungsbeamte der Schule versteht und im übrigen durch gute Organisation dem Unterricht freie Bahn verschafft.
Wie rechtfertigt man Schülern gegenüber die Lektüre von althochdeutschen und mittelhochdeutschen Texten (dies nur als Beispiel)?
Nicht, daß ich nicht wüßte, welche Argumente man da schulgerecht zusammenträgt; nicht, daß ich nicht selber überzeugt wäre von der Bedeutung und Schönheit alter Texte. Doch wie spricht man eine solche Rechtfertigung aus vor Schülern, die ein immer geringeres historisches Bewußtsein haben, die die Dimension der Geschichte auf weite Strecken einfach einziehen möchten auf die Zweidimensionalität dessen, was aktuell ist?
Wenn man sie nicht überfährt, sondern mit ihrer Meinung herausrücken läßt, findet man mit wenigen Ausnahmen Einstellungen wie: „Das ist alles alter Kram“, „Das ist doch nicht mehr aktuell“, „Das hat doch gar keinen Bezug zu der Zeit, in der wir leben“, „Das brauche ich nie wieder“, „Dichtung ist was für den Feierabend“, „Gedichte sind was für Leute, die emotional eingestellt sind, ich will aber mal Naturwissenschaften studieren“.
Ich tue mein Bestes, um konkrete Beispiele dafür zu finden, daß auch Heutiges nicht verstanden werden kann, wenn man Vergangenes nicht kennt. Ich weise auf Brechts „Galilei“, zu dessen Verständnis sie doch ein Minimum von geschichtlichen Kenntnissen benötigten; ich mache ihnen klar, daß sie sogar in dem Beatles-Film „Help!” oder bei den Songs der Rolling Stones viele Späße und Anspielungen nicht mitbekommen, wenn sie nicht Englisch und einiges von englischer Geschichte kennen und können; daß sie nicht verstehen werden, warum Henry Miller so auf Goethe schimpft, wenn sie nicht einiges von Goethe gelesen haben. Endlich lese ich ihnen die Parodie des Nibelungenliedes aus Arno Schmidts „Kaff auch Mare Crisium“ vor und zeige ihnen, daß sie bei einem gewiß aktuellen Buch den Witz nicht verstehen, weil sie das Nibelungenlied nicht kennen. Da sie sich über die Parodie amüsieren, sind sie eher bereit, sich ein paar Strophen des Nibelungenliedes genauer anzusehen. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie ein Schüler sich Titel und Autor von „Kaff“ notiert.
Routine ist unausweichlich, manchmal ist auch der Stoff nicht brillant, manchmal fehlt es einem selber gerade an Schwung, und manchmal sind es die Schüler, die einem den Nerv töten. Doch es gibt, so dann und wann, Stunden, nach denen man mit der Welt und sich zufrieden aus der Klasse herausmarschiert. Wenn man gespannt und mißtrauisch lauschenden Obersekundanern an Beispielen, die sie selber im Unterricht geliefert haben, die Freudsche Theorie der Fehlleistungen erklärt; wenn man mit einer Oberprima nach Besprechung von Brecht-Gedichten lauthals und dröhnend die „Ballade von den Seeräubern“ singt, die man ihnen vorher, gesungen von Ernst Busch, auf Platte vorgespielt hat; wenn man mit Unterprimanern sorgsam und bedächtig Kafkas „Sorge des Hausvaters“ auseinandernimmt; wenn ein Primaner ein glänzendes Referat über Georg Büchner hält und vorher erklärt, er wünsche, daß dieses Referat aufgefaßt werde als „ein säkularisiertes Gebet für den inhaftierten Kommunarden Fritz Teufel“ (da kann man ja den Kopf schütteln, aber es freut einen doch, daß einer so formulieren und so gegen gängige Meinungen andenken kann), oder wenn man schließlich Sextanern entlockt, daß in Brechts Gedicht „Der Pflaumenbaum“ mit dem Baum gar nicht nur ein Baum gemeint ist — dann hat man manchmal doch das Gefühl, daß es nicht für die Katz ist, was man tut.
Aspekte einer Sache loben heißt nicht, die ganze Sache lobenswert zu finden. Ich halte das Gymnasium für reformbedürftig an Haupt und Gliedern, desgleichen die Referendarausbildung. Doch ich muß zunächst im Rahmen des Vorhandenen und Möglichen arbeiten, so gut es eben im Rahmen des Bestehenden geht.
Jörg Drews: Aus dem Leben eines Studienreferendars. Wer auf die Schule immer nur schimpft, sieht vieles falsch. In: Die Zeit, Nr. 18, 3.5.1968.