Jörg Drews: Das Gegenteil von 'gut gemeint'. Auch 50 Jahre nach seinem Tod hat Gottfried Benns aggressiv-inkorrektes Werk beste Überlebenschancen
Was Gottfried Benns Gedichten ihren großen, leidenschaftlichen, emphatischen Ton gab, war ihr immer waches, immer schmerzendes Gefühl des Verlustes der Metaphysik. Benn wusste um seine und unsere Verdammung zu einem Leben im Angesicht des Nichts, in vollendetem Nihilismus, in einem Werte-Vakuum. Geistesgeschichtlich und existenziell ist das inzwischen Vergangenheit: Wir haben uns eingerichtet in einer allgemein akzeptierten Verkehrsmoral ohne religiöse oder sonst wie transzendentale Begründung, erwarten weder von göttlichen Offenbarungen noch von der Geschichte eine grundlegende Verbesserung oder Vollendung des Menschengeschlechts – und unsere Dichter finden daher auch keine ‚große‘ Sprache mehr.
Es war wohl gerade diese Mischung aus kältester Ernüchterung und Rest-Pathos, die Gottfried Benn in den Jahren nach 1949 zu großem Erfolg verhalf, jene Mischung aus betörendem Klang und zynischem Parlando, aus Sentimentalität und Kessheit in seiner Lyrik; seine Prosa aber, gerade die im ‚Dritten Reich‘ – als er Schreibverbot hatte – für die Schublade produzierten Stücke wie etwa „Block II, Zimmer 66“, bestachen uns Junge in den fünfziger Jahren und bestechen noch heute den Leser durch eine Schärfe der Analyse damaliger nazistisch-deutscher Mentalität, die ganz einmalig ist und sich natürlich auch von da her schreibt, dass der Oberstarzt Dr. Gottfried Benn jahrelang, von 1935 bis 1945, als Versorgungsmediziner mit jenen Herren Generälen zusammenarbeiten und im Kasino zu Mittag essen musste, die gerade ihre mörderischen Überfälle in ganz Europa planten.
Diese Existenz, dies, – wie Benn stolz sagte: „Doppelleben“ –, das er mit höchster Selbstdisziplin durchhielt, gesteuert dadurch, dass er sein Bewusstsein in zwei Hälften in seinem Hirn deponierte, faszinierte, wie gesagt, uns junge Leser der fünfziger Jahre.
Da war einer (und war immer noch da!), der um 1912 zu den rücksichtslosesten Neuerern in der expressionistischen Lyrik gehörte, dann am Wahnwitz der Erstürmung von Festungen in Belgien teilhatte, später zu den Roués und den Armenärzten der zwanziger Jahre in Berlin zählte. Kurzzeitig Akklamateur der Nazis, enttäuscht und beschämt von der tatsächlichen Entwicklung Nazi-Deutschlands, dem er seltsamerweise mehr und Besseres an Entwicklungen zugetraut hatte, wurde er 1935 wieder Militärarzt in der paradoxen Verborgenheit der Armee, sprich: der Wehrmacht, nachdem er seine Berliner Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten hatte aufgeben müssen. Mit Schreibverbot belegt von der Reichsschrifttumskammer ab 1938, war er den Demokraten in Berlin-West nach 1945 ebenso verhasst wie den Kommunisten in Berlin-Ost. Politisch untragbar war er für beide, und dann wird er für sieben Jahre doch noch einmal der Grand Old Man der westdeutschen Literatur, Büchner-Preisträger und bundesrepublikanisches Gegenstück zu Brecht im Osten.
Oder, wie ein Kritiker damals schrieb: „In jeder westdeutschen Stadt gibt es mindestens einen jungen Mann, der sich für Gottfried Benn in Stücke reißen ließe.“ In den rückblickenden Worten sogar Peter Rühmkorfs (Jahrgang 1927), der Benn politisch weiß Gott nicht nahe stand: „Wer nicht durch diese Schule gegangen ist, dem fehlt was.“ Denn die Größe Benns ging in seinen politischen Meinungen und vor allem in dem verstörenden Irrtum seiner Parteinahme für die Nazis von 1933 nicht einfach auf, war nicht glatt verrechenbar, und man hat bis heute beim Wiederlesen dieses schmalen Oeuvres – die Gesamtausgabe von 1958 ff., ohne die Briefe, umfasst nur vier Bände – den Eindruck, dass hier die erste Hälfte dieses Jahrhunderts tiefer durchlitten und formuliert war als etwa in der soignierten Prosa Thomas Manns oder in der nach anarchistischen Anfängen doch in den Hafen der kommunistischen Ideologie einlaufenden Literatur Brechts.
In seiner kalten Brillanz, seiner schneidenden Unbarmherzigkeit, in seinem Schillern und seinem Wahrheitswillen, in der Artistik der künstlerischen Formen und seiner zwischen Wissenschaft und Vision schwebenden Prosa war Benn der genuine Erbe Friedrich Nietzsches, bodenlos beunruhigend und so anziehend gerade deshalb, weil er keine falschen Sicherheiten bot und nur riet, die unauflösbare Situation unnachgiebig und ungetröstet zu ertragen – und einem dafür das Prädikat intellektueller Tapferkeit verlieh; man erhielt gewissermaßen den Ritterschlag existenzieller Ausgesetztheit. Vermutlich sind damit heutige jüngere Leser natürlich nicht mehr zu ködern …
Benns ganzes Oeuvre ruht eigentlich – zugespitzt gesagt – auf einem evidenten Denkfehler bzw. einer unbeantworteten Frage, einer Aporie: Wenn es stimmt, dass der Beginn des 20. Jahrhunderts einen universellen Werteverlust, die intellektuell-wissenschaftliche Auflösung aller festen Begriffe und gedanklichen Sicherheiten mit sich brachte – warum war oder soll dann gerade die Kunst von diesem Werteverfall ausgenommen sein? Benn führt in diesem Zusammenhang immer wieder Nietzsches Wort von der „Kunst als der letzten metaphysischen Tätigkeit des Menschen“ an – aber was das genau heißt und warum allein die Kunst nach der Relativierung aller Werte als verlässlicher Wert übrig bleiben soll, bleibt unklar und wird doch von Benn einfach, als Eckstein seiner Poetik erkennbar, als pro-domo-Argument eingesetzt, als zentrales Credo seines Artisten-Evangeliums. Auf dieser Basis errichtet er ein vielfältiges lyrisches Werk, seine Lyrik ist durchzogen von der inbrünstig-feierlichen Zelebrierung dieser einsamen und zugleich privilegierten, auch lyrisch-theoretisch besungenen Tätigkeit namens: Dichten, die er „ein unbarmherziges Geschäft“ nennt.
Benns Gedichte halten – und das ist das eminent Auszeichnende – höchste intellektuelle und existenzielle Spannungen aus; sieht man von den Gedichten aus den Anfängen des Expressionismus ab, wo von Stramm bis Lichtenstein alle das Äußerste riskierten, sind Benns Gedichte von den größten Stürzen und Desillusionierungen, katastrophalen geschichtsphilosophischen Reflexionen und zärtlichsten Stimmungen in Natur und persönlichem Erleben erfüllt. Da sind Herbstgedichte wie die berühmten „Astern“, Frühjahrsgedichte wie „Anemone“, Gedichte, die von Todesnähe, von Ich-Zerfall, von einsamen Momenten poetischer Heimsuchung sprechen, Gedichte dann wieder voll des historischen Hohns auf die Situation dessen, was er das geistige und geologische Zeitalter des „Quartärs“ nennt, Gedichte des beginnenden Untergangs der „weißen Rasse“, die er „am Ende der Bahn“ sieht, Gedichte schließlich, die bis heute ‚dunkel‘ sind und einen konsterniert zurücklassen – etwa „Durch’s Erlenholz kam sie entlang gestrichen – – -“ oder „Osterinsel“ oder „Traum“. Sie gehören immer noch zum höchsten Bestand deutscher Lyrik.
Vergleicht man damit, was es zwischen 1925 und 1956 sonst so im Genre gibt (vom frühen Günter Eich bis zu Karl Krolow z. B.), so scheint dies als eher schwach, harmlos, idyllisch – von einigen Gedichten Brechts vielleicht abgesehen und – einer ganz anderen Richtung kommend – in den fünfziger Jahren einigen Gedichten Celans.
Benns Gedichte zeigen von 1912 bis zuletzt, dass hier einer etwas weiß über unsere inneren Abgründe, die sich nicht beschwichtigen lassen. Er war nicht bereit, zu säuseln und zu trösten, bloß damit „dem Kleinbürger die Gießkanne nicht verbogen“ wird, wie er herrlich böse formulierte; die Kraft vieler Benn’scher Gedichte liegt darin, dass ihr Autor sich niemals politische Korrektheit vorschreiben ließ, deutsche Innigkeit vermied (allerdings nicht immer Sentimentalität) und lieber Schnoddrigkeit, Sarkasmus, offenen Hohn und kaltes Lächeln im Hintergrund walten ließ. Das war und ist ja wohl oft die adäquate Haltung, die nicht zuletzt solche Essays wie „Saison“ aus den späten zwanziger Jahren schon zeigen. Angesichts einer Subventionskultur, die allabendlich ihre Pforten öffnet, wenn die großen Börsengeschäfte getätigt sind, wieder ein Industriezweig ins Ausland verschoben wurde und es dann ans Höhere geht, ist doch schneidender Sarkasmus angebracht. Dass der losgelassene Kapitalismus auf ganzer Linie gesiegt hat, war Benn schon 1928 kein Geheimnis mehr; zynisch war die Epoche, nicht Gottfried Benn als Person.
Es bleibt die „Wunde Benn“, um eine Formel Adornos, die eigentlich auf Heine gemünzt war, zu benutzen, das eigenartige Versagen Benns 1933, als er schon an Freunden, von Else Lasker-Schüler bis Heinrich Mann, sah, wie die politisch und rassisch inkriminierten und auf den Tod Gefährdeten die Konsequenz ziehen mussten und aus Deutschland flüchteten. Auch wenn Gottfried Benns Verhalten 1933, auch in der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie, nach den neuesten Forschungen etwa Joachim Dycks und anderer nicht so schäbig war, wie es die bisherige Lesart wollte – Benn war offenbar des in Deutschland herrschenden Quasi-Bürgerkrieges seit 1918 müde und erwartete so etwas wie einen nationalen Neubeginn, der zwar Ungerechtigkeiten mit sich bringen würde, ihm als Gesamtprozess aber doch notwendig erschien und die Möglichkeit in sich barg, ein zerfallendes Deutschland und Europa zu retten vor Kommunismus oder ‚asiatischen Horden‘. Benn hat später eingesehen, wie falsch seine Diagnose war und wie richtig dagegen die Einschätzung der Lage etwa durch den jungen Klaus Mann, dem er in seinem „Brief an die Emigranten“ (1933) so schroff entgegegengetreten war. Doch er hatte, im Gegensatz etwa zu Heidegger – die Größe, seinen Irrtum mit Beschämung einzugestehen. Alexander Kluge hat vor einiger Zeit auf die Frage, wie er Benns Kniefall vor den Nazis 1933 beurteile, geantwortet: „Das trifft mich tief und mindert die Vertrauenswürdigkeit Benns“, fügte aber hinzu: „Er hat aber vorher und nachher auch gelebt und gedichtet“, und: „Sie können nicht gleichzeitig dichten und Irrtümer vermeiden.“
Große Literatur entstand im 20. Jahrhundert nur da, wo es eine Bereitschaft gab, aggressiv inkorrekt die Dinge zu benennen und sich nicht vorschnell zu Solidarität und Menschenfreundlichkeit erpressen zu lassen. Die besten Einsichten und Formulierungen Gottfried Benns entstehen da, wo er sich erlaubt, schneidend zu formulieren, was ist bzw. was er von jemand hält, etwa von Ernst Jünger, dessen Gespreiztheit er unbestechlich durchschaute. Dass daraus nicht unmittelbar Handlungsmaximen abzuleiten sind, war ihm, dem Mann des „Doppellebens“, als Erkennender und Dichtender einerseits und als sozialem und einigermaßen soziablem Wesen anderseits ohnehin klar.
Was von ihm bleibt, ist mehr als nur das von ihm als allein überlebensfähig bezeichnete halbe Dutzend Gedichte aus seinem Werk. Es ist vielmehr die entschlossene Wendung gegen alles Verbindliche, Pläsierliche, Nette, Journalistische, ethisch Wackere und Gesinnungstüchtige in der Literatur, zusammengefasst in dem schlagenden, selbst in dem an zitierenswerten Sätzen nicht armen Werk Benns bemerkenswerten Satz: „Kunst ist das Gegenteil von ‚gut gemeint‘.“ 120 Jahre nach seiner Geburt, 50 Jahre nach seinem Tod am 7. Juli 1956 in Berlin ist sicher, dass sein Werk beste Überlebenschancen hat.
Drews, Jörg: „‚Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint‘“. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 4. 7. 2006. (Zum 50. Todestag). Sowie: Literaturkritik.de. Nr. 7, 2006.