Jörg Drews: Gabriela Avigur-Rotems großer Desillusionsroman aus Theresienstadt und Israel
Wem dieser Roman die Sinne verwirrt, wer nicht alles an Historie und Familiengeschichte behalten oder rekonstruieren kann, was da erzählt oder vorausgesetzt oder angetippt wird, dem bleibt doch die Sprache dieses Buches der 55-jährigen Israelin Gabriela Avigur-Rotem, seine warme, trocken-nervöse Erzählsprache, die ratlose und rastlose Bewegung dieser Sprache, ihre von Neugier getriebene spöttische Unsicherheit. Das zu sagen, heißt die Übersetzung aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer zu rühmen; das Buch liest sich wie ein in deutscher Sprache geschriebenes Buch.
Und es handelt ja auch indirekt und manchmal auch direkt vom Deutschland von vor 1945 und seinen Taten; es ist ein Buch von der ersten Generation der Kinder von Überlebenden des Holocaust, von einer Frau und ihrem Halbbruder, von Loja und Nahum, die in Theresienstadt, Venedig und Palästina/Israel aufgrund des unsäglichen Schicksals von Juden in den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren zu einer Familie sozusagen zusammengestückelt werden, ohne doch eigentlich wissen zu dürfen, wer sie sind; darüber erfahren sie lange nichts; nur Loja kriegt schließlich heraus, dass sie eigentlich Lea heißt (aber das ist noch der lustigste Teil der Sache) und dass – sie ist 1946 geboren – ihre Mutter 1993 noch lebt: in Prag.
Sie kann sie besuchen: eine völlig fremde Altkommunistin, die nach Israel einwanderte, das Land aber um 1950 wieder verließ und dann in der Tschechoslowakei fast 40 Jahre im Gefängnis saß – das taten mit ihrer Paranoia die tschechischen stalinistischen und Nach-68er- Kommunisten –, eine gebrochene Frau mit einer Mütterlichkeit, die fast vollständig verschüttet ist, eine – mit Verlaub – geradezu schmuddelige Rentnerin, vor der ihre Tochter zugleich schaudernd und wie erlöst steht.
Dies ein Happy End zu nennen, wäre ein lachhafter Sarkasmus; das Wiederfinden ist eigentlich nur ein Epilog zu Lojas Irrfahrt durch 47 Jahre, die in dem Moment, von dem aus erzählt wird, 1993, ihr zwar noch eine Mutter beschert, die überlebt hat, gerade weil sie’s nicht in Palästina ausgehalten hat, während alle anderen, Vater, Onkel, Halbbruder, schon gestorben sind. Um 1968 muss es gewesen sein, dass Loja die undurchsichtige, unaufrichtige Atmosphäre in ihrer Familie in Israel nicht mehr aushielt und dann fast 25 Jahre als Stewardess durch die Welt zigeunerte, obwohl sie doch schon im Begriff gewesen war, in die Fußstapfen ihres Archäologen-Vaters zu treten. Sie lebt ein glorios-unabhängiges Leben, anders gesagt: Sie fühlt sich rätselhaft beunruhigt und wurzellos, ihr Leben ist schick und jämmerlich zugleich.
Als sie nach fast einem Vierteljahrhundert nach Israel zurückfährt, weil sie ein kleines Erbe antreten soll, ahnt sie die Chance, an ihr vergangenes Leben anzuknüpfen: Schule, Studium, Freundinnen, erste Lieben. Im alten Häuschen ihres Quasi-Onkels Davidi fühlt sie sich fremd und wohl zugleich, Orangenhaine umgeben sie, es ist alles halbvertraut, ein paar Lebensstränge ihrer Freundinnen werden bequatscht und entwirrt, was Loja dann aber in jene Enge jüdischen bzw. israelischen Lebens zurückzuführen droht, vor der ihre Mutter mehr als 40 Jahre vorher auch schon geflohen war.
Das Tagebuch ihres Vaters, des Häftlings in Theresienstadt, findet sie in einer Kommodenschublade im kleinen Häuschen, das Davidi ihr vermacht hat: Wollte er, dass sie es findet und damit erfährt, durch welch grässliche, mörderische Konstellation ihr Vater und Davidi aneinander gebunden waren und bis zu ihrem Ende blieben? Gabriela Avigur-Rotem hat intensiv recherchiert zu den Verhältnissen in Prag und Theresienstadt in den vierziger Jahren, hat auch Dokumente eingebaut in ihre Fiktion, aber sie hat vor allem einen außerordentlich flexiblen Ton gefunden, eine Erzählperspektive, in die sie inneren Monolog und Dialog, Tagebuch und totales Durcheinander des Gequassels auf einer Party gleitend einander folgen oder Erzählung und Introspektion einfach ineinanderlaufen lassen kann.
Mit Loja ist ihr eine bewegende, sehr ernste Gestalt gelungen; Loja kann – ganz altmodisch gesprochen – lieben in ihrer weichen und ruppigen Art, die Welt wahrzunehmen und über sie nachzudenken: eine Frau, die schroff sein kann und zugleich noch immer ein Girl ist und, so kann man hoffen, am Ende als Person restituiert, als ein Gefäß – wenn auch eben mit Bruchspuren – sich wieder hergestellt fühlt, so wie sie einst als eifrige Gehilfin ihres Vaters aus Trümmern Tongefäße zusammenklebte; sie hat den Mut, in die schreckliche Vergangenheit zu blicken und an der Zukunft doch nicht zu verzweifeln.
In Israel war das Buch nicht nur ein „großer Erfolg“, sondern der überraschende Erfolg eines – wie man so sagt: anspruchsvollen, komplexen Buches; es wäre zu wünschen, das Gleiches auch hier geschieht. Und falls noch jemand auf ein bestimmtes Adjektiv als Anreiz und Versicherung wartet: Ja, „Loja“ ist ein sehr spannendes Buch.
Jörg Drews: Gabriela Avigur-Rotems großer Desillusionsroman aus Theresienstadt und Israel. In: Badische Zeitung, 17.1.2009. Zu Gabriela Avigur-Rotem: Loja. Roman. Aus dem Hebräischen von Anna Birkenhauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008.
Audiobeitrag im Hörfunk
SWR2 vom xx.xx.xxxx