Jörg Drews: Der die berühmten Rätsel löste. Zum Erscheinen der großen Bildbiographie Sigmund Freuds
Wäre es nicht angemessener, man hielte sich an Ernest Jones’ dreibändige Ausgabe von „Sigmund Freud – Leben und Sterben“ und an die anderen biographischen Untersuchungen? Ist es nicht sentimentale, subalterne, oberflächliche Neugierde, die einen zu einem Bildband über das Leben Freuds greifen läßt? Ist es nicht zu sehr eine bebilderte Hagiographie, was nun in hervorragender Ausstattung und großem Format vor uns liegt?
Doch es sind gerade Arbeiten wie die von Jones und Schur, die den Wunsch aufkommen lassen, des großen Alten ansichtig zu werden, mehr über sein Leben, seine Familie, seine Umgebung zu wissen. Verstreute Aufnahmen sind hier und dort zu finden, aber jetzt tritt uns erstmalig vollständig der vor Augen, der im „heiligen Buch“ der Londoner Royal Society nicht ohne Grund seinen Namen in die Nachbarschaft derer von Isaak Newton und Charles Darwin setzen durfte, der unser Weltbild revolutionierte wie in diesem Jahrhundert sonst nur Albert Einstein. Was Ernst Freud, Lucie Freud und Ilse Gubrich-Simitis zusammentrugen an Bilddokumenten und Willy Fleckhaus gestaltete, das ist die lange fehlende Ergänzung zu Jones, Schur und den anderen, das sinnliche Komplement zu all den Schilderungen von Freuds Leben. Sieht man von den hier erstmals publizierten Stellen aus Briefen und Werken Freuds ab, die der Band – jeweils als sorgsam ausgewählte Legenden zu den Photographien – enthält, so bietet das Buch sicher nicht umwälzend neue Informationen zum Leben Freuds.
Doch wer sich mit der Psychoanalyse beschäftigt hat, der hat im Laufe der Zeit, im Gange der Lektüre Freuds sich dieses Leben mehr oder weniger deutlich ausphantasiert, und an die Stelle des Ungefähren treten nun viele unbekannte Bilder, die in diesem Fall die Phantasie keineswegs töten, Verständnis und Phantasie vielmehr beflügeln, dem Nachdenken die authentische Vorlage geben; es tut sich die Welt von Bildern und Wahrnehmungen auf, die Freud selbst umgab und prägte: Das Ansehen des Buches wird zum bewegenden Wiedererkennen alles dessen, was man den Worten und Namen nach vielleicht schon wußte.
Man mag sich gleich die – psychoanalytische – Rückfrage stellen, ob man hier nicht einer, seiner Vaterfigur huldigt, ob man hier nicht ein wenig auf kultischen Spuren wandelt. Doch warum sollte man sich nicht eingestehen, daß hier vielleicht Neugierde, vor allem aber Verehrung und Dankbarkeit eine Rolle spielen, und warum sollten Verehrung und Bewunderung schlechte Eigenschaften sein? Damit die Bilder dieses Bandes zu einem sprechen, damit sie über die Familien- und Kulturgeschichte hinaus aussagekräftig werden, dazu muß schon Kenntnis des Werkes von Freud vorliegen; damit ein Photo von Schloß Bellevue bei Wien staunendes Wiedererkennen auslöst, muß man schon die Rolle des Hauses in Freuds Leben kennen, muß man wissen, welche Rolle gerade diese Örtlichkeit für die Analyse des Traumes von „Irmas Injektion“ in der „Traumdeutung“ spielte. So schiebt gerade die Notwendigkeit, mehr über Freud zu wissen, schon der vordergründigen biographischen Neugier einen Riegel vor. Je heimischer man in den Gefilden von Freuds leben ist, desto stärker spricht dieses – im schönsten Sinne des Wortes – Bilderbuch zum Betrachter.
Und man stößt auf kleine und große Dokumente, die neue Fragen zu dem Mann aufwerfen, der im Alleingang eine Wissenschaft begründete, der damals in kaum zu überschätzendem Maße sich – wie er es an John Stuart Mill rühmte – „von der Herrschaft der gewöhnlichen Vorurteile frei“ machte, der die Götter nicht direkt stürzte, sondern indirekt – indem er die Unterwelt in Bewegung brachte. Da ist ein Blatt faksimiliert mit seinen Kritzeleien während einer Sitzung der Wiener „Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft“, das Berufene wohl deuten könnten; da sind Bilder aus Büchern, die dann wiederkehren in der Bilderwelt der Träume, die er uns oder von denen er uns jedenfalls Teile mitgeteilt und gedeutet hat (er war ein großer Bekenner, doch auch ein sorgfältiger Verhüller); da sind Aufnahmen seiner Tochter Anna, der er von allen seinen Kindern wohl in der größten Liebe zugetan war; da ist nicht zuletzt das seltsame Phänomen, daß er – spätestens ab 1881 – nie mehr mit seinem vollen Vornamen unterschrieb, sondern nur mit der Abkürzung „Sigm.“, als möge er den zweiten Teil seines Vornamens nicht, als sei der „Mund“ für ihn eine Tabuzone gewesen, jene Körperregion, an der dann später Verfall und Tod bei ihm angriffen; da ist schließlich auch der Brief an seine Braut, bei dessen Schreiben er mitten auf das Blatt einen Tintenklecks machte und – in früher Antizipation der Möglichkeit einer Analyse solcher „Fehlleistungen“ – dazu schrieb: „Hier ist uns die Feder aus der Hand gefallen u. hat dieses Geheimzeichen geschrieben. Wir bitten um Entschuldigung u. sich nicht um die Deutung zu bemühen.“
Gerade in ihrer Zahl und Dichte geben die Bilder auch nochmals einen Eindruck von dem Fleiß, der Strenge und Intensität, mit der Freud sein Leben lebte. Nimmt man seine Werke, die ärztliche Praxis und die Vorlesungen an der Universität Wien zusammen, so kann man sich beinahe nicht vorstellen, wie all dies in ein Leben hineingepaßt haben soll; da versagen auch Begriffe wie Disziplin, Konstitution, Ehrgeiz, Willenskraft oder Fähigkeit zur Sublimation. Gewiß wäre eine solche Biographie in Bildern ohnehin nicht der Ort, wo menschliche Fehler Freuds ihre Darstellung zu finden hätten, auch nicht in dem schönen Vorwort von K. R. Eissler, aber es ist doch erstaunlich, daß auch in anderen Darstellungen von Freuds Gestalt auch die kritischsten Autoren nicht schwere menschliche Schwächen und Brüche in Freuds Persönlichkeit feststellen konnten; vielleicht ist es doch eine weit überdurchschnittliche Kraft und glückliche Geschlossenheit seiner psychischen Konstitution, die ihm seine ungeheuere Lebensleistung ermöglichten.
Am Ende aber ist es – selbst in der Kürze der Zitate aus seinen Briefen und Schriften – doch wieder Freuds Sprache, sein Stil, der – wie ihm als Siebzehnjährigen schon sein Lehrer anläßlich des Abiturs sagte – „zugleich korrekt und charakteristisch ist“, die Genauigkeit, Umsicht und menschliche Wärme aller seiner schriftlichen Äußerungen, die einen erneut zurückführen zu seinen Schriften, den Werken des Forschers, der – wie seine Schüler im Bewußtsein der literarischen Kennerschaft Freuds und in Anspielung auf die Sphinx zu seinem 50. Geburtstag auf eine Medaille prägen ließen – „die berühmten Rätsel löste und ein sehr mächtiger Mann war“.
Bildlegenden:
[Porträtphoto Sigmund Freud]
Sigmund Freud, geboren am 6. Mai 1856 in Freiberg/Mähren, gestorben am 23. September 1939 in London. In der Familienbibel ist sein Name als „Schlomo Sigismund“ eingetragen; seinen Vornamen verkürzte er später zu Sigmund, dann immer zu „Sigm.“. Nimmt man seinen Vornamen zusammen mit der jüdischen Form des Namens „Freud“, nämlich „Simacha“ (eine Anspielung auf „Simchath Torah“), so bedeutet sein Name: „Der weise Mann, der sich an der Lehre freut“.
[Photo Schloß Bellevue]
Während eines Aufenthalts auf Schloß Bellevue bei Wien war es Freud im Sommer 1895 gelungen, zum ersten Mal einen Traum, seinen eigenen von „Irmas Injektion“ vollständig zu deuten. Kurz nach Erscheinen der „Traumdeutung“, im Sommer 1900, schrieb Freud an Fließ mit Bezug auf Schloß Bellevue: „Glaubst Du eigentlich, daß an dem Haus dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird?: ‚Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes’. Die Aussichten sind bis jetzt hierfür gering.“
[Porträtphoto Anna Freud]
Anna Freud. „Aber es ist Ihnen doch nicht verborgen geblieben, daß das Schicksal mir zur Entschädigung für manches Versagte den Besitz einer Tochter gewährt hat, die unter tragischen Verhältnissen hinter einer Antigone nicht zurückgestanden wäre.“ (an Arnold Zweig)
[Porträtphoto Amalie Freud]
Freuds Mutter Amalie, geborene Nathanson: „Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich einen Erfolg nach sich zieht.“ (Freud in „Eine Kindheitserinnerung aus ‚Dichtung und Wahrheit’“.)
[Photo Freud am Schreibtisch mit Hund Jofi]
Freud im Jahre 1937 in seinem Wiener Arbeitszimmer mit seinem Hund Jofi: „oft, wenn ich Jofi gestreichelt, habe ich mich dabei ertappt, eine Melodie zu summen, die ich ganz unmusikalischer Mensch als die Arie aus dem ‚Don Juan’ erkennen mußte: ‚ein Band der Freundschaft bindet uns beide …’“.
Zur Bildbiographie
Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten. Herausgegeben von Ernst Freud, Lucie Freud und Ilse Gubrich-Simitis. Eingeleitet von K. R. Eissler. Gestaltet von Wiolly Fleckhaus. 350 Seiten., über 300 Photos und Dokumente. Suhrkamp-Verlag Frankfurt. Subskriptionspreis 98 Mark, später 120 Mark.
Jörg Drews: Der die berühmten Rätsel löste. Zum Erscheinen der großen Bildbiographie Sigmund Freuds. In SZ am Wochenende, 16./17.10.1976