Jörg Drews: Nachwort. Zu „Das bleibt“. Deutsche Gedichte 1945-1995
„Wir wissen nichts vom Gedicht“, schreibt Gerhard Falkner; „nach erstaunlich vielen geistreichen Einkreisungsversuchen, auch in neuerer Zeit, ist es noch immer nicht dingfest gemacht und im engeren Bereich nur ein Konsens, der sofort in andere literarische Gattungen stark ausfranst.“1 Aber selbst wenn man geneigt ist, Falkners lustvoll melancholischem Eingeständnis der immer sich erneuernden Ungreifbarkeit und Uneingrenzbarkeit des Phänomens Gedicht beizustimmen, vollzieht sich doch unser Umgang mit Gedichten in der Praxis ganz anders. Wir kennen die Komplexität des Gedichts, kennen die Wandelbarkeit unserer Einstellung zu vielen Gedichten, kommen unseren geschmacklichen und stimmungsbedingten Schwächen für bestimmte Gedichte und ganze Richtungen der Lyrik auf die Spur und äußern dennoch dezidierte Meinungen zu Gedichten, haben Evidenzen bezüglich der Bedeutung und des Rangs von Gedichten, fällen Urteile und machen uns ein Bild von der Lyrik ganzer Epochen, auch unserer eigenen. Gewiß denken wir nicht mehr in so pampig ewigkeitshörigen Kategorien wie der des ,Meisterwerks‘, aber da wir doch nicht in der Beliebigkeit landen wollen, halten wir mit guten Gründen daran fest daß es große Gedichte gibt – und im Unterschied dazu auch kleine, schwache, kunstgewerbliche, modische, harmlose, die wir durchaus erkennen können. Schwieriger wird’s höchstens, wenn, wie Falkner schreibt, man auf ein Gedicht stößt, das „alles“ hat, „es ist zeitgemäß, meistert die Form, beherrscht seine Mittel, erreicht sogar eine gewisse Kühnheit und ist doch nur das, was dasteht“2; aber es macht ja vielleicht sogar die Lust des Lyriklesers aus zu wissen, daß er sich nicht, wie bei erzählender Prosa, notfalls auf Inhalte zurückziehen kann, sondern gewissermaßen gefährdeter liest, in seinen Urteilen sich stärker exponiert und exponieren muß. Und wer den Wunsch sich bewahrt hat, Distanz von Tagesmoden zu halten oder zu gewinnen, wird zumindest sich selbst immer wieder Rechenschaft zu legen versuchen, was aus dem Lektüretreiben vieler Jahre übrigbleibt, übrigbleiben soll.
Heinrich Vormweg hat vor kurzem den Vorschlag gemacht, auf die offenbar keineswegs abnehmende Menge des lyrisch Produzierten und Publizierten nicht mit elitärem Ärger darüber zu reagieren, daß hinter den „Lyrifizierungsversuchen von ,Wirklichkeit‘“ in ihrer erkennbaren Uniformität am Ende gar keine wirklichen individuellen Autoren stehen, sondern, wie Matthias Politicki schreibt. „bloß ein einziger Autor – ein geschickter Bastler, der sich verschiedenartiger Methoden des Kunsthandwerks bedient“. Vormweg plädiert vielmehr angesichts dieser Lage fürs „Lesen vieler, immer anderer Gedichte nicht auf der Suche nach einem vermeintlich ,großen‘ Gedicht, sondern nach den ungezählten Brechungen erfahrener Realität in der lyrischen Sprache.“3 So menschenfreundlich der Vorschlag klingt und so notwendig solche Praxis auch sein mag, wenn man sprachsoziologische Einsichten in die alltägliche Dispersion lyrischer Sprache gewinnen will – es ist ein Vorschlag, der impliziert, daß „große“ Lyrik ohnehin nicht mehr existiert oder gar keine sinnvolle Kategorie mehr ist und es vielmehr darauf ankomme oder interessanter sei, in gut demokratischer Manier zu beachten, wie der lyrische Mann-auf-der-Straße dem lyriksprachlich Vorhandenen seine kleine Nuance abgewinne, nicht in einem ,schöpferischen‘ Sinne – daß er nämlich dem Vorhandenen etwas Neues, gar etwas Großes hinzufüge −, sondern in dem Sinn, daß er das Recht hat, eine erfahrene Realität (über deren Charakter anscheinend von vornherein Konsens besteht) in der gerade allgemein angesagten Sprache auch ein wenig zu brechen.
Dann wären allerdings beim Lesen von Gedichten nur noch Lyrikmoden ersten Grades in ihrer Verdünnung zu Moden zweiten und dritten Grades, zweiten und dritten Ranges nachzuverfolgen und als politisch-alltagskulturelle Phänomene zu registrieren; es handelte sich dann bei Gedichten nur um Dokumente quasi-lyrisch ausgedrückter Bewußtseinslagen der Allgemeinheit, und daß dem nachzugehen Pflicht eines Chronisten des Bewußtseinwandels sein könnte, ist nicht zu bestreiten. Man kann dem nur einen emphatischen Begriff von Lyrik gegenüberstellen und darauf hinweisen, daß die Einebnung bzw. das Sich-gleichgültig-Machen gegenüber allen Unterschieden zwischen weitverbreitetem lyrischem Geschreibsel und Lyrik eine politische und keine literarisch-ästhetische Entscheidung ist.
Die vorstehende Auswahl deutscher Gedichte – es sei wiederholt, daß sich das Adjektiv „deutsch“ hier allein auf die Sprache bezieht, in der die Gedichte geschrieben sind, im Sinne des Satzes von H.C. Artmann: „Ich bin Österreicher und ein deutscher Dichter“ – geht von der Voraussetzung aus, daß es bedeutsame Unterschiede in der Qualität von Gedichten als Erfahrung von Lesern gibt und als regulative Idee, trotz aller Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Rangs von Gedichten, geben muß. Wahrscheinlich ist (oder wäre) es außerdem sogar der Selbsterkenntnis von Gedichtschreibern zur Selbstaussprache, Selbstverwirklichung und Freizeitbeschäftigung dienlicher, den Unterschied zwischen Gedichten als Teil der Meinungsfreiheit und der Freizeitfreiheiten einerseits und Gedichten andererseits zu erfahren, die im Rahmen einer inzwischen komplexen und hochdifferenzierten, vor bestimmten historischen und ästhetischen Ereignissen sich verantwortenden und daran sich messenden Disziplin entstanden sind. So reizvoll und in vieler Hinsicht aussagekräftig es auch sein könnte, dem Vormwegschen Vorschlag folgend auch die deutsche Lyrik von 1945 bis heute unter dem Aspekt einer lyrischen Sprache als in große gesellschaftliche Breite sich ausdehnendes gesunkenes Kulturgut und als Sammlung von Zeugnissen der Geschmacks- und Bewußtseinsgeschichte zu verfolgen, so wenig kann einem aber als Leser und Literaturkritiker damit das Recht genommen sein, etwa herausgefordert von dem Datum 1995 und dem nahenden Ende des Jahrhunderts, sich die Frage zu stellen, was – bei gegebener Bedingung eines beschränkten Umfangs einer solchen Sammlung – an deutscher Lyrik der fünfzig Jahre seit der deutschen Kapitulation und Befreiung bzw. der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jenseits des Historisch-Dokumentarischen und anderer Bedingtheiten zu bleiben verdiene, da es zeige, wie diese Lyrik den Bereich des Sagbaren erweitert, die Formensprache deutscher Lyrik bereichert und Phänomenen des inneren wie des äußeren Lebens sich zu stellen vermochte, die neue, vorher nie gekannte Voraussetzungen waren für die Entwicklung der Lyrik. Die Frage ist, ob sich annäherungsweise ein Korpus von deutschen Gedichten zusammenstellen ließe, das nicht nur allerlei Strömungen der deutschen Nachkriegslyrik, die Breite ihrer Möglichkeiten erkennen ließe, sondern das die spezifische Leistung dieser Lyrik angesichts der Aufgabe und der Bedingungen seit 1945 zeigte. Diese „Leistung“ bestünde dann darin, unter verantwortlichem Rückgriff und in Fortsetzung der mehr oder weniger etablierten lyrischen Sprache oder in der Entwicklung neuer Sprechweisen nicht einfach neue „erfahrene Realität“ dichterisch ,gebrochen‘, sondern sie überhaupt erst adäquat – und das würde auch heißen: eben nicht epigonal – benannt und erfahrbar gemacht zu haben. Eine Lyrikanthologie aus der Produktion eines bestimmten Zeitraums so zusammenzustellen, daß nicht „nur wieder ein buntes Lesebuch mehr“4 entstehe, ist immer wieder da versucht worden, wo der Zusammenstellende nicht nur einen Zeitraum – „die zwanziger Jahre“, die „sechziger Jahre“ o.ä. – in ,typischen‘ Gedichten repräsentieren wollte, sondern eine entschiedene Fragestellung hatte. Walter Höllerers Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte will 1955 das lyrische Signum eines ganz bestimmten Augenblicks vorführen, eines Augenblicks in der deutschen Lyrikenentwicklung; Hans Magnus Enzenberger setzt 1960 in seinem Museum der modernen Poesie gewissermaßen den Schlußstein in die deutsche Rezeption jener internationalen Entwicklung der modernen Poesie, von der Deutschland bis weit in die Nachkriegsjahre hinein abgeschlossen war, und mit Walter Höllerers, Franz Mons und Manfred de la Mottes Sammlung movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur tauchten 1960 zum ersten Mal in Deutschland in größerem Umfang experimentelle Texte in einer Anthologie auf, die überdies mehr eine gegenwärtige, mit Enthusiasmus begrüßte Bewegung als eine vergangene Kunstphase dokumentierte. Keiner der Bände hatte übrigens kanonisierende Absichten, obwohl Enzensbergers Museum ein Stück weit eine solche Wirkung hatte, indem das Buch – und sei’s auch unfreiwillig – festschrieb, was unter der (klassischen) internationalen lyrischen Moderne zu verstehen sei. Erinnern wir schließlich, um uns vor Augen zu halten, wie Sammlungen aussehen können, die über die Verzeichnung des Historisch-Zeittypischen hinaus wollen, an zwei Extreme, an Franz Mons und Helmut Heissenbüttels Antianthologie. Gedichte in deutscher Sprache nach der Zahl ihrer Wörter geordnet von 1973 und an Rudolf Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie von 1926. Mon und Heissenbüttel stellen einen quantitativen, quasi-technischen Aspekt in den Vordergrund und ordnen die deutsche Lyrik der Vergangenheit nach einem an der experimentellen Poesie des 20. Jahrhunderts gewonnenen Prinzip: Welche lyrische Prägung und Verwendung erfährt eine Wort-Menge zu unterschiedlichen Zeitpunkten? Stellen sich für Gedichte gleicher Wort-Menge ungeachtet des Zeitpunkts ihrer Entstehung ähnliche strukturelle Probleme? Rudolf Borchardt hatte eine so bestimmte Vorstellung von einem die gesamte deutsche Lyrik durchherrschenden geistlichen Unterstrom sowie eine an den blanken Schrecken grenzende Abneigung gegen das die deutsche Poesie des 19. Jahrhunderts prägende Epigonentum bei gleichzeitigem Verfall dessen, was er unter „Formen“ verstand, daß er von da her zu bestimmen versuchte, welcher vorbildliche Vorrat zu Beginn des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts zu bilden sei, und so fragwürdig die Vision ist, die er um einer von ihm entworfenen poetischen und kulturellen Zukunft willen der deutschen Lyrik der Vergangenheit aufprägt, so konsistent und willensstark ist sie doch.
Borchardt kann einen bei der Konzeption einer Sammlung deutscher Lyrik der letzten fünfzig Jahre jedenfalls darin bestärken, daß weder Bekanntheit des Gebotenen noch Vollständigkeit hierbei angezeigt sein dürfen. Verbindet man eine solche Auswahl mit dem Kriterium der sprachästhetischen Leistung, dessen, was auf Englisch „achievement“ heißen würde, und mit der unbedingten Forderung und Überzeugung, daß es eine Adäquanz von neuen Themen und Erfahrungen zu einer neuen lyrischen Sprache gibt und daß daher jenseits aller Fetischisierung des Wertes der ,Neuheit‘, der ,Innovation‘ eine neue oder doch – an Indizien ihres Gebrauchs erkennbar – eine durch Reflexion ihrer Verwendung neue Sprache die lyrische Epoche nach 1945 kennzeichnen muß, so ist auf alle Fälle ein Kriterium aufgestellt, welches – wie bestreitbar die ausgewählten Texte auch immer im Einzelfall sich hierzu verhalten – auszuschließen erlaubt, was bloß populär war in den letzten fünfzig Jahren – so sehr es auch zum literarischen Leben gehört haben mag, das ja immer großherziger ist als jene Instanz, die entscheiden müßte, was an Modischem und Gefälligem, an „Normallyrik“ (Herbert Achternbusch) mit der Epoche seiner Popularität auch zu enden verdiente. In diesem Sinne ist die Rolle eines Auswählenden als eines, der sich anmaßt, aus seiner Sammlung auch auszuschließen, eine unbarmherzige; aber schließlich hat jeder Leser die Möglichkeit, in seine Sammlung des Überlebens- und Überliefernswerten das wieder einzuschließen, was ein anderer Anthologist ausschloß. Ein in sich konsequenter Kanon ist für das Nachdenken über Qualitäten von Lyrik überhaupt und über die Gedichte der letzten fünfzig Jahre, die ob ihres Ranges und ihrer Einmaligkeit unbedingt zu dauern verdienten, ohnehin viel anregender als eine Ansammlung, die aus lauter Angst, jemanden vergessen oder irgendetwas auch Bemerkenswertes übersehen zu haben, ins Amorphe zerläuft.
Selbstverständlich würden zur Lyrik der letzten Jahrzehnte, wählten wir unter dem Aspekt des Ausdrucks des uns allen bekannten, öffentlich Wort gewordenen Lebensgefühls aus, unbedingt die Gedichte von Erich Fried und die Lieder von Wolf Biermann gehören; Lyrik als Geschichtsschreibung, als Sammlung zum Beleg von geschmacklichen und politischen Gestimmtheiten, würde selbstverständlich die Verse George Forestiers und Jürgen Theobaldys, Ulla Hahns und Peter Maiwalds einschließen. Elisabeth Langgässers Gedichte müßten dann vertreten sein und jener bisweilen kostbare, bisweilen saloppe Intellektualkitsch, der sich in der Lyrik des späten Benn findet; einiges an wortreich fetzigem, kaum endenkönnendem Gerede Jörg Fausers gehörte hierher wie auch vieles der intelligenten und smart lyrifizierten Gesellschaftskritik Enzensbergers, die seine Gedichte ganz rasch für den Deutschunterricht brauchbar erscheinen ließ. Wer lang genug die deutsche Lyrik nach 1945 nicht nur las, sondern mit ihr lebte, der hatte einmal eine Liebesaffäre mit Benns „Welle der Nacht“ und in den fünfziger Jahren mit Peter Härtlings „Yamin“-Gedichten, in einem bestimmten Moment der sechziger Jahre dann auch mit einigen Liedern Wolf Biermanns. Aber mag die Instanz auch noch so problematisch sein, die erklären dürfte, dies bleibe und jenes nicht – auf den gottverlassenen Anwurf, das alles sei doch eine reine Sache des persönlichen Geschmacks und die vorliegende Auswahl sehr subjektiv, kann man nur antworten, daß ,Geschmack‘ zwar in ästhetischen Dingen eine Realität aber kein Argument ist, da sonst nur noch übrigbliebe, einer Geschmacksbekundung eine andere entgegenzustellen. Es lassen sich mit Gedichten Erfahrungen machen, die mehr als nur Geschmackssache sind und auf die man sich argumentativ durchaus einigen kann, was dann zumindest eine große Anzahl von Entscheidungen über die Qualität von Gedichten aus dem pur Subjektiven heraushält.
Eine der deprimierendsten Erfahrungen beim Wiederlesen der Gedichte vieler Autoren der Zeit nach 1945 – das dürfte aber für die lyrischen Œuvres anderer Zeiträume genauso gelten – ist der Eindruck der Geschwätzigkeit nicht nur vieler Gedichte, sondern auch vieler Autoren. Zahlreiche Autoren haben ihren Ton, ihre Sprechweise, nachdem sie sie einmal gefunden haben, nur gering variiert oder weiterentwickelt, und bei der rückblickenden Lektüre ihrer Werke fällt auf, daß die ,Notwendigkeit‘ ihrer Lyrik oft eher auf eine Art Wiederholungszwang hinausläuft: bei gleichbleibender Sprache werden die Themen ausgetauscht und Innovation, poetische Arbeit und also auch Überraschung des Lesers halten sich in Grenzen. Schreiben gehört auch für die Autoren oft eng zum gelebten Leben, zur Psychohistorie des Individuums, und dann ist das Aufgeschriebene Teil dieses Lebens und damit auch so vergänglich wie dieses. Damit eine Anzahl von Gedichten entsteht, die anderer, haltbarerer Natur sind, muß offenbar viel geschrieben werden, was dann Übung, Selbstvergewisserung und – böse und mit dem unbarmherzigen Blick von außen gesagt – nur Duplikat oder Schlacke ist. Wahrscheinlich sind selbst die größten Autoren nur selten auf der Höhe ihrer selbst und von ihren bewundernswertesten, dichtesten Leistungen her gesehen, in denen Meisterschaft und Glück zusammentraten, haben fast alle Autorinnen und Autoren zu viel geschrieben. Das ist wahrscheinlich der Hintergrund von Gottfried Benns Feststellung, auch große Autoren hinterließen, genau betrachtet, nur sechs bis zwölf „hinterlassungsfähige Gebilde“, was wie das Echo des Alfred Kerr zugeschriebenen Diktums klingt, in den umfänglichsten lyrischen Œuvres stünden höchstens zehn Gedichte von Rang.
Das mag um der Pointe willen übertrieben sein, hat doch der bis zur Mißgunst nüchterne Kritiker Garlieb Merkel 1805 Goethe sogar „ein Viertelhundert gelungene Gedichte“5 zuerkennen müssen – aber da ging’s eben um Goethe … „Das Gedicht verdichtet sagt man. Doch was machen, wenn es labert?“6 fragt Robert Gernhardt. Oft ist es gar nicht das einzelne Gedicht, das „labert“, sondern der grausame Blick des ein Gedichtwerk in seiner ganzen Masse lesenden Lesers läßt die spannungslosen Gleichförmigkeiten daran deutlicher ans Licht treten. Robert Gernhardt ist übrigens selbst nicht frei davon, auch öfters mal nur witzig zu schwätzeln, aber hat doch an erstaunlich vielen Stellen seines ersten bis zu seinem vorerst letzten Gedichtband vorgeführt. daß gerade er ein Meister strenger Lakonik in der Lyrik der deutschen Gegenwart sein kann, einer ruhigen, mit Metaphern geizenden Wortkargheit, die ihn – unabhängig vom Ideologischen – zum im Moment vielleicht herausragendsten Schüler des Lyrikers Bertolt Brecht macht, zum Meister des fast bis zu Tonlosigkeit abgemagerten ,basic German‘.
Unbedingtheit der Auswahl, keine Relativierung der Auswahl durch Rücksichten und technische Bedingungen – dies wäre das Ideal gewesen für eine Anthologie, die allein auf Qualität der Gedichte, auf maßstabsetzende Radikalität der Texte setzen will. Das ist, zugegebenermaßen, aus verschiedenen Gründen nicht möglich gewesen oder mir selbst als Anspruch in einigen (wenigen) Fällen auch fragwürdig geworden. Bisweilen ist etwa die historische Bedeutung eines Gedichtes so groß, daß seine absolute Bedeutung gar nicht mehr klar feststellbar ist: Ist Günter Eichs „Inventur“ wirklich ein bedeutendes Gedicht oder ist es nur („nur“?) ein sehr treffendes, anrührendes Gedicht, das einen historischen Moment in Deutschlands Geschichte, den Anfangspunkt der Epoche, deren große Gedichte unsere Auswahl versammeln will, festhält? In noch höherem Maße gilt dieses Problem einer Rezeption, die die Erkenntnis der unbedingten Qualität des Gedichts behindert, für Paul Celans „Todesfuge“, die ich für höchst problematisch halte. Aber ehe ich das Gedicht ausschließe, muß ich ihm doch eine von rein sprachästhetischen Argumenten gar nicht mehr erreichbare Wirkung und sogar Größe zubilligen, die ich nur reduzieren möchte dadurch, daß ich „Engführung“ daneben stelle, ein Gedicht, das man als eine Art Selbstkommentar zur lyrischen Verfahrensweise Celans in der „Todesfuge“ lesen kann. Andererseits gibt es auch Gedichte, die ich geneigt war in die Sammlung aufzunehmen, obwohl sie nur eine oder zwei Zeilen haben, die herausragend und einmalig sind, die aber das ganze Gedicht auf eine neue Stufe heben. Robert Gernhardts Gedicht „Dichtermann in Dortmund“ ist zwar nur eine lyrische Plauderei über die Station einer Lesereise, eine eher deprimierende Station, doch dann schwingt sich das Gedicht zu zwei aberwitzigen, wahrhaft unerhörten Schlußzeilen auf: „Dortmund! Bist nicht gerichtet, bist gerettet! / Dortmund! Gebenedeit unter den Städten!“7 Und Werner Bergengruen sogar wäre beinahe mit dem Gedicht „Die letzte Epiphanie“ in die Auswahl aufgenommen worden, einem Gedicht, das vielleicht nur groß gedacht und dann schematisch ausgeführt ist, jedoch am Ende Gott der nach dem biblischen „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir“ in vielen Gestalten die Barmherzigkeit der Deutschen auf die Probe stellt, bei der sie versagen, schließlich in einer letzten Gestalt erscheinen läßt: „Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?“8 Das hat bedeutendes religiöses Pathos und ist beinahe ein großes geistliches Gedicht aus einem der moralisch trostlosesten Momente Deutschlands, einem Dies irae, wie Bergengruens Gedichtband von 1945 heißt, in dem das Gedicht erstmals stand. Die Schlußzeile reißt dann aber doch nicht das ganze Gedicht in jenen Rang, der es bleibend machen würde.
Beim Zusammenstellen einer Gedichtauswahl treten auch Fragen der Proportion auf, um so stärker wahrscheinlich, je geringer die Zahl der zur Verfügung stehenden Seiten ist. Ernst Jandls Sprechgedicht „bestiarium“ vom Februar 1957 zum Beispiel, veröffentlicht in Laut und Luise, wohl einem der gewichtigsten Bände deutscher Lyrik seit 1945, hätte sehr viel Platz beansprucht innerhalb der vorliegenden Anthologie, und seine Wirkung wäre obendrein noch unsicher gewesen, da dieses Gedicht in besonders hohem Maße darauf angewiesen ist, gesprochen und gehört zu werden. Ähnlich steht es mit Bert Papenfuß’ „krampf-kampf-tanz-saga“ aus dem 1989 in Ost und West erschienenen Gedichtband dreizehntanz; dies ist sicher eines der bemerkenswertesten langen Gedichte der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, hätte aber im vorliegenden Band zu klobig und demonstrativ gewirkt und zu viele andere Gedichte vertrieben. Das Gedicht bleibt aber bemerkenswert, für mich nicht zuletzt auch deshalb, weil es einen der seltenen Fälle darstellt, in denen ein langes Gedicht – als Konzept meist einleuchtender denn als Realität – glückt, entgegen der Diagnose A.C. Bradleys, der ich eigentlich zustimme: „Dichtung [in englischer Sprache: ,poetry‘, also eher Lyrik] ist die Sprache eines Krisenzustandes, und eine Krise ist kurz. Das lange Gedicht ist kunstwidrig.“9 Auf eine ganz andere Weise, die mit der Nähe seiner Schreibweisen zur experimentellen Literatur zusammenhängt, erreichen die Gedichte Jan Faktors ihre Länge, und gerade in dieser Länge erst entwickeln sie ihre spezifischen Qualitäten; doch sind auch diese Gedichte Sprechgedichte und hätten wegen ihres Umfangs wiederum sehr ungefüg und sprengend gewirkt. Was dann auch heißt, daß etwa ein großformatiger Band von 600 Seiten für eine Auswahl deutscher Lyrik der letzten fünfzig Jahre ganz andere Texte einschließen könnte – und nicht nur zahlenmäßig mehr.
Gerhard Falkners eingangs zitierte Bemerkung, „Gedicht“ sei etwas, das – gerade in den letzten Jahrzehnten – „in andere literarische Gattungen stark ausfranst“ (vielleicht sollte man genauer sagen: in andere Textsorten und in die Nachbarkünste), stimmt natürlich in besonderem Maße für die Texte der Wiener Gruppe und allgemein der Autoren, für die sich die summarische Behelfsbezeichnung „Experimentelle“ eingebürgert hat. Eugen Gomringers Konkrete Poesie heißt mit gutem Grund nicht Lyrik, aber man kann sie als ganz spezifische Ausformung von Lyrik lesen, jedenfalls vor dem Hintergrund der Entwicklung lyrischen Sprechens in unserem Jahrhundert; ähnliches gilt für manche Texte Helmut Heissenbüttels, für Texte Schuldts und auch Pastiors. Es gehört zum guten Ton, sich über den in seiner Nüchternheit und Neutralität schon wieder preziösen Begriff „Text“ lustig zu machen; der Begriff ist aber auf weite Strecken nur präzise; Heissenbüttels Textbücher (1960 ff.) sind eben nicht Gedichtbände, Franz Mons artikulationen von 1959 nicht einfach ein Lyrikband, obwohl viele der Texte, wie gesagt, in gewissem Sinn eine Erbschaft der Lyrik antreten (nicht die Erbschaft, wohlgemerkt), unter der Voraussetzung einer bestimmten Leseweise dieser Texte. An Texten Schuldts, Oskar Pastiors und Gerhard Rühms, auch etwa an Franz Mons „crna gora“ oder „entwicklung einer frage“ ließen sich Nähe und Unterschiede traditionell lyrischer und stärker von der Sprachmaterialität ausgehender Schreibweisen fruchtbar diskutieren, wobei dann auch zu erörtern wäre, inwiefern Visuelle Poesie unter Umständen zur Lyrik zu rechnen wäre. Für die vorliegende Auswahl habe ich mich entschieden, Visuelle Poesie und Phonetische Poesie – mit Ausnahme zweier dem Lautgedicht nahestehender Gedichte Konrad Bayers, der sonst insgesamt zu schwach in der Auswahl vertreten gewesen wäre – nicht zu berücksichtigen, weil dies ein ganz neues Feld eröffnet hätte; in beiden Fällen wäre übrigens auch die Typographie bzw. die zu verwendende Schrifttype neu zu bedenken gewesen, von der Frage ganz abgesehen, ob nicht auf kleinformatigen Seiten entscheidende visuelle Texte gar nicht adäquat wiedergegeben werden können. Und eine weitere Bedingtheit sei schließlich genannt, eine auf seiten der Leser, auf die doch Rücksicht zu nehmen war: Die Mundartlyrik, die bei H.C. Artmann, Gerhard Rühm und anderen auf große und befreiende Weise aus Biederkeit und Provinzialität heraustrat, hätte so umfangreiche Erläuterungen und Übersetzungen für die des Wienerischen nicht kundigen Leser notwendig gemacht, daß ich sie mit Ausnahme einiger Gedichte Friedrich Achleitners, die zugleich auch wichtig waren für ihre einmalige Lakonik, sowie eines Gedichtes von Konrad Bayer nicht in die Auswahl aufnahm.
„Die Theorie muß man kennen, aber die Sinne müssen über die Theorie sich lustig machen“10, den Satz Gerhard Falkners muß man als Lyrikleser und besonders als Organisator einer Anthologie wahrscheinlich selbstironisch dahin variieren, daß man zugibt, wie sich einmal im Lauf der Zeit, zum andern aber noch einmal speziell bei erneuter Lektüre vieler Autoren und bei der Entscheidung über die Auswahl für diesen Band Erfahrungen mit Autoren und ihren Gedichten einstellen, die einem gar nicht in das Bild passen, das man sich von der Entwicklung und den genuinen Möglichkeiten der deutschen Lyrik der letzten fünfzig Jahre machte. Als Kritiker, dessen Vorstellung von Lyrik implizierte, daß die gängige lyrische Übung nach und nach, aber grundsätzlich unwiderruflich abgelöst würde von Schreibweisen und Texten, die den herkömmlichen Lyriker der Ich-Aussprache obsolet machen bzw. ihn als obsolet erweisen würden, muß ich einräumen – und preise dies mit Vergnügen als eine der glücklichsten literarischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte −, daß die Vielfalt legitimer Schreibweisen auch in der Lyrik und in Textsorten, die der Lyrik sehr nahe sind, viel größer geblieben, ja vielleicht sogar wieder viel größer geworden ist als ich zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa um 1970, vermutete. Ohnehin war klar, daß ein mehr oder weniger beliebiger allgemeiner Lyrik-Markt unbehelligt von literaturtheoretischen Problematisierungen der Gattung Lyrik immer weiterbestehen würde und Ulla Hahn e tutti quanti bzw. quante weiter ihre zahlreichen Leser finden würden: natürlich würde der Betrieb sich irgendwie fortwälzen. Aber auch die Zahl der Autorinnen und Autoren, die das Schreiben von Gedichten nicht nur als etwas sehen, was ihnen erlaubt ist, sondern als etwas, das objektive spirituelle Anforderungen an sie stellt, ihnen Verantwortung auferlegt und das in den Bereich der verantwortlichen Arbeit einer intellektuell-ästhetischen Existenz gehört, ist bis heute groß geblieben und die Arten, sich in Sprache der Welt nähern, sie durch sprachliche Eroberungen erst erfahrbar zu machen, beglückend vielfältig.
Um den Satz von Werner Kraft, Franz Kafka sei so einmalig und rätselhaft, daß man sagen könne: Kafka war in der deutschen Literatur nicht vorgesehen, zu variieren: Die Lyrik Ludwig Greves steht in einer Art in der Tradition der deutschen Lyrik, wie ich sie für unmöglich fortsetzbar gehalten hätte; die Lyrik Bert Papenfuß’ scheint mir innerhalb der Lyrik der DDR ein einmalig und überraschend bedeutender Fall zu sein, und, polemisch zugespitzt: selbst die deutsche Literaturkritik, von der Literaturwissenschaft ganz zu schweigen, hat noch keine Ahnung von dem Reichtum, den die Lyrik Helmut Heissenbüttels, Paul Wührs und Reinhard Prießnitz’ dem Vorrat deutscher Poesie gewissermaßen unvorhergesehenerweise eingebracht hat, speziell den Gedichten über den Tod, den politischen Gedichten, der Lyrik zu Auschwitz und der erotischen Lyrik. Spannend wird es übrigens obendrein sein, wenn die Lyrik der DDR nach und nach noch einmal und unter veränderten Bedingungen zur Kenntnis genommen wird; ich vermute, daß gerade in der Lyrik der DDR jenseits ihrer Begrenzungen und Bedingtheiten Sprechweisen gefunden wurden – erkennbar schon von Adolf Endler über Elke Erb bis zu Karl Mickel, um nur einige Beispiele zu nennen −, deren Karat, deren spezifische Leistung und deren Entwicklungsfähigkeit noch gar nicht recht gesehen wurden. In diesem Sinn möchte ich auch Oskar Pastiors Satz „Ich weiß nicht was Lyrik ist“11 verstehen, den man zunächst natürlich auf sein eigenes Schreiben beziehen kann: Wüßte er, was Lyrik ist, so könnte er Gedicht um Gedicht hervorbringen, problemlos – schreibend kriegt er es aber eigentlich erst ein Stück weit heraus, und indem er schreibt, verändert er selbst den Begriff der Lyrik wieder. Der Satz ist jedoch auch überpersönlich zu lesen: Lyrik verändert sich, indem unerwartete neue Gedichte hinzukommen, die nicht vorgesehen waren bzw. von uns jedenfalls nicht erwartet wurden, und daher werden wir – um pathetisch weit auszugreifen – erst am Ende aller Tage, nach allen Gedichten wissen, was Lyrik ist. Im Licht von Pastiors Satz könnte ich auch sagen: In die Auswahl des vorliegenden Bandes habe ich Gedichte aufgenommen, die nach 1945 den Begriff und die Möglichkeiten der deutschen Lyrik verändert haben.
Mir scheint, daß es zwei verborgene Fragestellungen, zwei Probleme und Herausforderungen für die Lyriker deutscher Sprache nach 1945 gab und bis heute gibt denen sie sich in irgendeiner Weise stellen mußten, sich auch meist gestellt haben. Wie fragwürdig auch immer einem Adornos berühmter Satz, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch – ein Statement das es übrigens in mehreren, zum Teil revidierten Versionen gibt und das selten differenziert diskutiert wurde −, erscheinen mag, er notiert doch, daß zwar nicht jeder Gedichtschreiber sich jede Minute und bis heute vor Auschwitz zu rechtfertigen hatte oder habe, wenn er ein Gedicht schreibt, daß aber auf eine schwer faßbare Weise das Gedichteschreiben ein Stück seiner Unschuld verloren hat und es bei den verantwortlichen Autorinnen und Autoren der Epoche zumindest einen Stachel in ihrer Selbstgefälligkeit und ihrem unbedenklichen lyrischen Gebrauch der Wörter geben müsse. Ich denke, daß die von Adorno geforderte unbedingte Ökonomie der künstlerischen (und also auch sprachlichen) Mittel etwas mit diesem Ende des unschuldigen kulturellen und insbesondere lyrischen Weiterproduzierens zu tun hat. Das Mißtrauen gegen die Metapher, das sich von der Wiener Gruppe ein den fünfziger Jahren über die Konkrete Poesie, Helmut Heissenbüttel in seiner Literaturtheorie und in seinen Texten bis zu Oskar Pastiors Verfahren wie auch in die Ausführungen seiner Frankfurter Poetikvorlesung zieht, steht in einem Zusammenhang mit der von Adorno angemeldeten Empfindlichkeit (um es milde auszudrücken) gegen den ungebrochenen weiteren Umgang mit kulturellen und also auch sprachästhetischen Besitztümern, der es mit sich bringen könnte, daß sich sonst bloße lyrische Draperie, Umsichwerfen mit Ererbtem, Prunken mit Gütern, die einem nicht (oder nicht mehr) legitim gehören, einstellten. Die Eichsche, Krolowsche, Huchelsche „Chiffre“ scheint mir übrigens eine der Schwund- und Spar-Formen der Metapher; H.C. Artmanns geradezu ostentativer, ostentativ vielfältiger Gebrauch lyrischer Bildlichkeit aller möglichen Provenienz ist seinerseits eine Inszenierung der Sehnsucht, es möchte doch noch oder wieder alles in Ordnung sein mit der lyrischen Sprache und dem Dichtertum; die Entwicklung von Paul Celans Werk – von Gedichten wie „Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum“ bis zu den spätesten Gedichten – scheint mir eine konsequente Problematisierung alles dessen, was der große Könner Celan eben nicht mehr einfach glatt und prunkvoll können wollte, und ich halte es für eine zentrale Schwäche der Lyrik von Ingeborg Bachmann, daß sie mit großer dichterischer Pose und erheblicher Sentimentalität einen Reichtum lyrischer Bilder ausstellt, über den sie nicht rechtmäßig verfügt: er ist geborgt und nicht problematisiert, nicht bearbeitet. Hans Magnus Enzensberger aber ist wahrscheinlich gerade da, wo er auf die schick und geschickt gehandhabte lyrische Bildlichkeit seiner gebrauchslyrischen Gedichte der fünfziger und der frühen sechziger Jahre verzichtet, einer bedeutenden Möglichkeit neuer Lyrik und seinen eigenen besten Möglichkeiten am nächsten. Ökonomie der Mittel: Vielleicht kommen einzelne wenige Texte der Konkreten Poesie und der experimentellen Literatur, außerdem einige Gedichte des späten Brecht, ein paar kürzeste Verse Werner Krafts, zwei oder drei Gedichte aus Paul Wührs Band Sage diesem Ideal am radikalsten nahe: Lyrik, die sich selbst das endlos eitle lyrische Plappern ausgetrieben hat. „Ohne Metaphern gäbe es keinen Abgrund unter den Planken, zum Scheitern“12: Oskar Pastiors seinerseits abgründiges Diktum benennt die Notwendigkeit der Metapher für die Lyrik und zugleich, daß sie ein trügerischer Halt sein kann. Kommt das gar nicht in den Blick, wird die Frage übersprungen, was aus dem lyrischen Bild geworden sei, so droht ein Bilderreichtum, der hochstaplerische Pose ist, objektive Verlogenheit. Der dies wußte und es dennoch schaffte, noch einmal ein Dichter zu sein, den Dichter auf die sublimste Weise zu spielen, ist wohl wie schon angedeutet. H.C. Artmann, der es verstand, die Sprache nur noch nicht mehr „anders als scheinbar“13 zu verwenden. Es bleibt deprimierend, daß bis heute einer der angesehensten deutschen Literatur- und speziell Lyrik-Preise, welcher sich obendrein mit dem Namen Petrarcas schmückt, nicht an H.C. Artmann hat vergeben werden können, von dem als dem Herrscher über alle Köstlichkeiten der deutschen Sprache Oskar Pastior zu Recht sagt: „Artmann ist der Fürst.“
Die Anordnung der Gedichte erfolgt in schnöder Neutralität alphabetisch nach den Namen der Autorinnen und Autoren; innerhalb der Gruppe der von einem Dichter angenommenen Gedichte folgt die Anordnung – soweit dies feststellbar war – dem Entstehungs- bzw. Publikationszeitpunkt. Sowohl eine Anordnung nach dem Geburtsjahr des Autors wie auch allein nach dem Entstehungs- oder Publikationszeitpunkt, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Verfasser, wäre mir ebenso willkürlich erschienen; im Falle einer strikt chronologischen Reihenfolge der Gedichte wäre doch auch der Eindruck aufgekommen, daß das Gedicht eng mit dem historischen Moment, in und zu dem es entstand, in Verbindung gebracht werden solle, was ich eben nicht will; die Zeitmarke ihrer Entstehung sollen die Gedichte idealiter überstiegen haben. Große literarische Leistungen erinnern wir überdies bis heute und trotz aller Theorien vom Tod des Autors, der sich unverwechselbar sogar noch in so scheinbar mechanistischen Schreibweisen bzw. Textarten wie dem Anagramm nachweisen läßt14, mit dem Namen eines Autors oder einer Autorin, als Teil eines Individuums, das seine spirituelle wie seine empirische Seite hat.
Seit Hans Magnus Enzensbergers Aufsatz „Die Aporien der Avantgarde“ gehört es zum guten Ton, sich mit abwehrend erhobenen Händen gegen eine solche Dummheit wie die Vorstellung einer künstlerischen Avantgarde zu verwahren; Spott über die Vorstellung, in der Kunst gebe es wie im materiellen Bereich den Fortschritt, und sei es den Fortschritt der Materialbeschreibung, ist in letzter Zeit unter Literaturwissenschaftlern noch verstärkt zur karrierefördernden communis opinio avanciert. Abgesehen davon, daß die Künstler selbst den Avantgarde-Begriff seit vielen Jahren nur sehr sparsam benutzen und daß er andererseits vielleicht in Deutschland und Österreich als Begriff oder als Vorstellung – sei es auch als schlagwortartige Verkürzung – während der Jahre, in denen die Künstler dieser Länder den Anschluß an die internationale Literaturszene und an die literaturrevolutionären Traditionen vor allem Europas vor allem im ersten Drittel unseres Jahrhunderts suchten, als Stichwort und Richtungsangabe für bestimmte Denkweisen und Intentionen ganz brauchbar war, ist selbstverständlich die Vorstellung eines „Fortschritts“ in den Künsten bzw. bezogen auf Abfolgen künstlerischer Werke naiv und problematisch. Aber wenn dieser Spott über den Avantgarde-Begriff von Kritikern kommt, die notfalls und obwohl sie es besser wissen lyrische Modeprodukte beflissen besprechen, wenn ein mächtiger Redakteur es ihnen nahegelegt, und ihnen folgsam etwas Positives abzugewinnen verstehen, dann hat man doch allen Grund, an der Einsicht festzuhalten, daß es auf jeden Fall so etwas gibt wie einen Fortschritt im künstlerischen Problembewußtsein, eine nicht zu vernachlässigende Entwicklung der Einsichten in die Bedingungen des eignen Tuns, unter denen die pure „Materialbeherrschung“ nur ein Aspekt unter mehreren ist.
Festzuhalten ist auch daran, daß eine radikale und radikal selbstkritische Haltung im Umgang mit künstlerischen Mitteln überhaupt, die Einsicht, daß mit technischen und gesellschaftlichen Änderungen auch die Literatur sich ändern muß, wenn sie nicht in feinsinnigem retrograden Trotz verharren und in schöngeistige Harmlosigkeit und Beliebigkeit zurückfallen will, zu den unverzichtbaren Kriterien gehört, wenn Autoren auch heute Literatur nicht nur für den Markt, nicht nur für die Unterhaltung und nicht als pures Ornament schaffen wollen, mit anderen Worten: wenn sie darauf insistieren, daß Dichtung auf komplexe Weise etwas mit Erkenntnis zu tun hat, mit Erkenntnis im Medium des Ästhetischen. Zöge man, schreibt Robert Musil, eine Verbindungslinie zwischen all den Werken, die in diesem Sinn ernsthaft und radikal sind, so „erhielte man als Rand die Grenzkarte unseres Fühlens und Denkens, die Verbindungslinie der Endpunkte aller Wege, wo sie vor dem Nochnichtbegangenen abbrechen.“15 Dieser Vorstellung, daß zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt eines „anything goes“, einer ganz offenen und unübersichtlichen künstlerischen und intellektuellen Situation alles geht, aber deshalb noch lange nicht alles kriterienlos, gleich wichtig und wahrhaft gleichgültig ist fühlt sich die vorliegende Auswahl deutscher Gedichte aus den letzten fünfzig Jahren verbunden. Sie setzt darauf, daß am Anfang nicht das gefällige Geschwätz war, sondern das Wort und daß auch am Ende nicht gefälliges Geschwätz gelten wird, sondern das Wort, eine spirituelle Tatsache, an der jeder ,linguistic turn‘ zu nichts zerstäubt, weil es jenseits der Bedingtheit der Sprache die Unbedingtheit des Worts gibt. Joseph Brodsky hielt 1987 in seiner Nobelpreisrede diesen emphatischen Begriff des Dichters – polemisch gesagt: im Gegensatz zum Gedichtschreiber – mit den Worten aufrecht: „Jemand, der ein Gedicht schreibt, tut dies vor allem, weil das Schreiben von Gedichten den Geist, das Denken und das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise beschleunigt. Wer diese Beschleunigung einmal am eigenen Leib erlebt hat, ist nicht länger in der Lage, auf die Chance einer Wiederholung dieses Erlebnisses zu verzichten: er wird abhängig von diesem Schaffensprozeß, so wie andere abhängig werden von Drogen und Alkohol. Wer in dieser Weise abhängig wird von der Sprache, ist das, was man einen Dichter zu nennen pflegt.“16 Wir Leser von Gedichten sind vielleicht nicht im selben Maße von Gedicht und Sprache abhängig wie Dichter, aber auch wir binden unser Leben an Sprache und haben mit bestimmten Gedichten eben diese Erfahrung gemacht, daß sie „das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise beschleunigen.“ Es sind solche Gedichte, von deren Unsterblichkeit man vielleicht nicht mehr ungebrochen überzeugt sein kann, aber von denen man wünscht und in manchen Momenten sogar zu wissen glaubt, daß sie bleiben.
Die vorstehende Auswahl von Gedichten sei einem Kenner deutscher Lyrik gewidmet, der eine ganz andere Vorstellung von ihr hatte, dessen Ernst und Verpflichtung beim Zusammenstellen seines „Ewigen Vorrats deutscher Poesie“ aber ich liebe und verehre.
Jörg Drews, München, den 10. Januar 1995
1 Gerhard Falkner, Über den Unwert des Gedichts. Fragmente und Reflexionen, Berlin/Weimar 1993, S. 142.
2 Falkner, S. 142.
3 Heinrich Vormweg, Verteidigung des Gedichts. Eine Polemik und ein Vorschlag, Göttingen 1990, S. 16 – Der Satz Matthias Politickis wird zitiert nach: Vormweg, s. 10.
4 Ewiger Vorrat deutscher Poesie, besorgt von Rudolf Borchardt, München 1926; photomech. Nachdr. der Originalausg., Stuttgart 1977, S. 445.
5 In: Der Freimüthige, 8. November 1805, S. 472.
6 Robert Gernhardt, Weiche Ziele. Gedichte, Zürich 1994, S. 107.
7 Gernhardt, S. 47f., hier S. 48.
8 Werner Bergengruen, Dies irae. Gedichte, Zürich 1945, S. 10f.
9 A. C. Bradley, Oxford Lectures On Poetry (1909); Neudr. New York 1965, S. 203.
10 Falkner, S. 130.
11 Oskar Pastior, Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 14.
12 Pastior, S. 100.
13 Ewiger Vorrat deutscher Poesie, S. 451.
14 Vgl. Renate Kühn, Das Rosenbaertlein-Experiment. Studien zum Anagramm, Bielefeld 1994.
15 Robert Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. Von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 8, S. 1315.
16 Zitiert nach: Vormweg, S. 5.
Jörg Drews, Nachwort, in: Jörg Drews (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945-1995. Reclam, Leipzig 1995, S. 245-265.