Jörg Drews: Nachwort. Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann
»Dieses Buch hat eine Geschichte, so unstet wie die Zeit, in der es entstand«, schreibt Ruth Andreas-Friedrich 1964 im Vorwort zur Taschenbuchausgabe ihres Buches »Der Schattenmann«, das bei Rowohlt unter dem Titel »Schauplatz Berlin. Ein Tagebuch aufgezeichnet 1938–1945« erschien. In der Tat hat dieses Tagebuch eine höchst merkwürdige Entstehungsgeschichte und – nicht zuletzt durch den Wechsel der Titel der diversen Ausgaben – auch eine verwirrende Publikationsgeschichte.
Zunächst wurde »Der Schattenmann« 1946 in englischer Übersetzung unter dem Titel »Berlin Underground«, als erstes Buch eines nicht-emigrierten Deutschen nach dem Kriege, im Henry Holt Verlag in New York und kurz darauf bei Latimer House in London publiziert. Im Juli 1947 verlegte es Peter Suhrkamp im Suhrkamp Verlag Berlin unter dem Titel »Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1945«. Danach war es jahrelang vergriffen; das Interesse an Berlin mochte in dieser Zeit wohl gestiegen sein, aber das Interesse an einer Wiederbegegnung mit der Nazi-Zeit war in den selbstzufriedenen und wirtschaftswunderlichen fünfziger und frühen sechziger Jahren offenbar gesunken. 1962 kam es wieder als »Schauplatz Berlin. Ein deutsches Tagebuch« im Rheinsberg Verlag Georg Lentz in München heraus; diesmal allerdings reichten die Aufzeichnungen nicht nur bis zum Kriegsende 1945, sondern waren ergänzt durch Aufzeichnungen der Autorin bis Ende 1948. 1964 veranstaltete Rowohlt die erwähnte Taschenbuchausgabe (rororo 66o), die ein neues Vorwort von Ruth Andreas-Friedrich enthielt und deren Inhalt nun wieder nur bis zum Kriegsende 1945 in Berlin ging. 1972 erschien das Buch, mit den Aufzeichnungen bis April 1945, in der DDR, in zweiter Auflage 1977. Hinzu kamen Übersetzungen, neben der ins Englische eine französische (1966), eine holländische (1966), eine hebräische (1967) und eine ungarische Ausgabe (1975).
1983 griff der Suhrkamp Verlag auf den Titel aus der Frühzeit des Verlages zurück und veröffentlichte das Buch unter dem korrekten Titel der deutschen Erstausgabe in seinem »Weißen Programm«. Es stieß beim Publikum erneut auf überraschend großes Interesse; über 10 000 Exemplare wurden verkauft, und das Buch zählte damit zu den erfolgreichsten Titeln des »Weißen Programms«. Im Frühjahr 1984 wurde es nochmals, außerhalb des »Weißen Programms«, nachgedruckt, und die Resonanz bei den Buchkäufern wie auch die Anmahnungen der Kritik machten es möglich, daß nun auch der zweite Teil der Aufzeichnungen unter dem Titel »Schauplatz Berlin. Tagebuchaufzeichnungen 1945 bis 1948« erneut aufgelegt wurde.
In Berlin wurden Teile von »Der Schattenmann« und »Schauplatz Berlin« im Mai 1985, zur Erinnerung an den Jahrestag der Kapitulation, im Radio vorgelesen; in Berliner und Münchner Buchhandlungen fanden Lesungen aus dem Buch und Diskussionen dazu statt, und damit war eine Autorin einer zeitweiligen Vergessenheit entrissen, die selbst, ganz uneitel, nie sehr viel für die Verbreitung ihres Ruhms getan hatte.
Wer war Ruth Andreas-Friedrich? Sie wurde am 23. September 1901 in Berlin-Schöneberg als Tochter des »Wirklichen Geheimen Kriegsrats« Dr. jur. Max Behrens und seiner Frau Margarete geb. von Drewitz geboren, verlebte ihre Kindheit in Berlin, Stettin und Metz, verließ 1918 das Lyzeum in Magdeburg, besuchte ein Jahr lang die Pawel’sche Frauenschule in Breslau und legte 1922 das Staatsexamen als Wohlfahrtspflegerin in Breslau ab. 1922/23 machte sie eine Buchhändlerlehre bei Trewendt & Granier in Breslau, übersiedelte nach Berlin und heiratete 1924 Otto A. Friedrich, den späteren Direktor der Phoenix Gummiwerke Hamburg-Harburg und Präsident des westdeutschen Arbeitgeberverbandes. 1925 wurde ihre Tochter Karin Friedrich geboren; die Ehe wurde 1930 geschieden. In den zwanziger Jahren schon begann Ruth Andreas-Friedrich ihre journalistische Tätigkeit mit Buchbesprechungen und Feuilletons bei der »Neuen Badischen Landeszeitung« und der »Königsberger Allgemeinen« und schrieb später für zahlreiche Frauenzeitschriften und Illustrierte. »Seit Ausbruch des Krieges Übernahme des ›Briefkastens‹ und sämtlicher menschlicher Themen bei der Zeitschrift ›Die junge Dame‹, schreibt sie in einem 1946 verfaßten Lebenslauf. Nach Kriegsende wird sie Konzessionärin und Mitherausgeberin der Wochenzeitung »Sie«, verläßt aber wegen der immer schwieriger werdenden Arbeits- und Lebensbedingungen Ende Dezember 1948 Berlin und geht in die Bundesrepublik, wo sie ihre journalistische Tätigkeit fortsetzt. Sie lebt in München und heiratet 1955 Professor Walter Seitz, den Direktor der Münchner Universitäts-Poliklinik. Nach ihrem Tod am 17. September 1977 schrieb Alfred Frankenstein in den »Israel Nachrichten« vom 12. Oktober 1977 über Ruth Andreas-Friedrich: »Sie ist eine jener gerechten Deutschen, die den guten Namen des Volkes in seiner schlimmsten Zeit gerettet haben. Ihr Andenken sei gesegnet.«
Geht man die Bücher durch, die sie neben den beiden Tagebüchern veröffentlicht hat – Lieder- und Gedicht-Anthologien, Benimm- und Lebenshilfe-Bücher von »Woher kommen die kleinen Kinder?« (1957; das erste Aufklärungsbuch nach dem Zweiten Weltkrieg, immerhin) bis »Jung durch Gymnastik« und »Schlank durch Diät« –, so wird deutlich, daß ihre Arbeit einzig durch die Tagebücher in den Bereich des Literarischen hineinragt, wenn auch ihre Bücher zur Angewandten Psychologie »Überwindung der Lebenskrisen« (1955), »Ursprung und Sinn der Träume« (1958) und »Wege aus der Einsamkeit« (1966) durchaus ernstzunehmen und anspruchsvoll sind; Ruth Andreas-Friedrich interessierte sich immer für Psychotherapie und hatte Ende der dreißiger und in den frühen vierziger Jahren auch intensiven Kontakt mit dem Berliner Psychoanalytiker John F. Rittmeister (der wegen seiner engen Kontakte zu der Widerstandsorganisation »Rote Kapelle« im September 1942 verhaftet und am 13. Mai 1943 in Plötzensee hingerichtet wurde). Die Motivation aber, diese Tagebücher zu schreiben und zu veröffentlichen, lag gar nicht in literarischem Ehrgeiz; vielmehr wollte sie – zunächst und vordringlich für die Jahre von I938 bis I945 und vor allem vor denen, die nicht in Hitler-Deutschland geblieben waren oder hatten bleiben können – Zeugnis ablegen dafür, daß nicht alle Deutschen Nazis gewesen waren, daß es zwar keinen großen Aufstand gegen Hitler, aber doch einen »Lautlosen Aufstand«, wie Günther Weisenborn dies in seinem Buch von 1953 nannte, gegeben hatte, der mit zur Wahrheit über jene Jahre gehörte.
Im Vorwort zur Ausgabe von I964 berichtet sie dazu etwas ausführlicher als in der kurzen Vorbemerkung zur deutschen Erstausgabe von 1947:
»Im Spätsommer 1938 begegnete ich in Stockholm der Tochter Carl von Ossietzkys. Sie fragte mich: ›Nicht wahr, Sie bleiben in Schweden?‹ ›Nein‹, sagte ich, ›ich gehe zurück nach Deutschland.‹ Schroff wandte sie sich von mir ab. Plötzlich wurde mir klar, wie schwer es einmal sein würde, denen von draußen zu beweisen, daß nicht jeder, der in Deutschland blieb, ein Nazi sei. Ihnen verständlich zu machen, warum wir blieben und nicht gingen. Warum wir dennoch, im ganzen genommen, weder schlechter noch besser waren als sie. So begann ich, mir über alles, was um mich geschah, Notizen zu machen, Berichte und Zeitungsartikel zu sammeln, um mich für diese ›Zeugenaussage am Tage X‹ vorzubereiten. Als dann, wenige Wochen später, die Synagogen brannten, entschloß ich mich, meine Aufzeichnungen sofort so niederzuschreiben, daß ich sie am ›Tage X‹ unverzüglich denen vorlegen könne, um deren Verständnis es mir ging. Das geschah. Tag für Tag schrieb ich auf, was ich hörte, sah, erlebte. Verschlüsselt in einer Art von Geheimschrift, mit Decknamen für alle, die ich nannte. Daß es sie und mich den Kopf kosten würde, wenn man dieses Tagebuch fand und es zu lesen verstand, war mir klar. Die fertigen Seiten verbarg ich. In der Bombenzeit nahm ich sie mit in den Keller. Sollten sie mit mir überleben oder vernichtet werden. So lag mein Tagebuch, notiert bis zum 28. April 1945, fertig da, als am 8. Mai 1945 der Krieg zu Ende war.«
Das Tagebuch lag da, aber dies war nicht das, was wir heute in den Büchern lesen. Von Juni bis September I945 fertigte Ruth Andreas-Friedrich in Berlin eine maschinenschriftliche Fassung ihrer Tagebücher von 1938 bis 1945 an, für deren Publikation sie zunächst den Titel »Wir anderen«, dann »Nein« vorsah. Die umfangreichen Notizen aus den sieben Jahren seit 1938 enthalten wesentlich mehr Material als das dann in »Der Schattenmann« veröffentlichte; Ruth Andreas-Friedrich schied Allzu-Privates, Amouröses und Berufliches fast ganz aus, da es ihr nicht von allgemeinerem Interesse zu sein schien, und konzentrierte ihre Darstellung auf die politische Atmosphäre und ihre Arbeit in der Widerstandsgruppe »Onkel Emil«. Nach zwei Fehlschlägen, ihre Aufzeichnungen in die USA befördern zu lassen, gelang es ihr, das Typoskript mit dem Titel »NEIN. Aufzeichnungen aus den Jahren 1938–1945«, von dem ein Durchschlag im Besitz von Karin Friedrich noch erhalten ist, an ihre inzwischen in New York lebende Freundin Eva Landshoff (geborene Salomon, die Tochter des Berliner Ehepaares Ernst und Margarete Salomon) zu schicken; auf Umwegen hörte sie, daß Carl Zuckmayer sich sehr für die Veröffentlichung ihres Tagebuchs einsetze und daß Barrows Mussey, Zuckmayers Übersetzer, es bereits ins Englische übertrage. Erst durch eine Besprechung in der „New York Times« erhielt sie dann Gewißheit, daß das Buch – unter dem Titel »Berlin Underground« – wirklich erschienen war. Ihre Absicht, die Aufzeichnungen zuerst und vor allem einem ausländischen Publikum als Zeugnis eines ›Anderen Deutschland< im Nazi-Deutschland vorzulegen, war erreicht.
»Wir haben ›Nein‹ gesagt – Gott, was rühme ich mich! – ›Nein‹ gedacht!«, lautet eine der ersten Eintragungen des Tagebuchs am 27. September I938; an diesem Tag hatte während der sogenannten Sudetenkrise Hitler in Berlin Truppen paradieren lassen, um zu testen, wie kriegsbereit die Bevölkerung sei; Ruth Andreas-Friedrich war mit einer Kollegin in die gar nicht jubelwillige, ostentativ stumme Zuschauergruppe vor der Reichskanzlei geraten. Und sie fährt fort: „Wir meinen Nein. Und wir wollen nicht. Aber was bedeutet unser Wollen? Was bedeutetes schon im Nazi-Regime, wenn zweihundert Menschen so tun, als ob sie eine Meinung äußern! Und dabei doch nichts anderes zuwege bringen als den kläglichen Mut, Herrn Hitler auf seinem Balkon zu übersehen!« Ruth Andreas-Friedrich und ihre »Clique«, ihr Berliner Freundeskreis, litten aber nicht nur unter dieser Situation, in der offener Widerstand gleichbedeutend mit Märtyrertum oder glattem Selbstmord gewesen wäre, sondern sie handelten. Im Zentrum ihrer Aufzeichnungen steht die jahrelange, mit Todesstrafe oder KZ bedrohte Hilfe, die sie und ihre Freundesgruppe Hitler-Gegnern, vor allem aber Juden und Halbjuden leisteten, ihre immer wieder auf die Probe gestellte Findigkeit im Ausnutzen von Lücken in der Überwachung durch die Gestapo und im Fälschen von Dokumenten, ihre Verzweiflung, wenn es ihnen nicht gelang, jemand erfolgreich zu verstecken und vor dem Tod zu retten. Es ist dieser Einsatz in dem langsam in Trümmer fallenden Berlin, der ihr in dem zitierten Nachruf den jüdischen Ehrennamen einer »Gerechten« eingetragen hat.
Es grenzt an ein Wunder, daß von den ungefähr 40 000 Berliner Juden, die Ende September 1942 noch in Berlin waren, einige wenige die Mordaktionen der Nazis überlebt haben. Ende Februar 1943 war ihre Zahl durch den Fortgang der Deportation und durch zahlreiche Selbstmorde schon auf ungefähr 26 000 gesunken; dann leitete Goebbels die sogenannte »Fabrik-Aktion« ein (man vergleiche Ruth Andreas-Friedrichs Tagebucheintragung vom 26. Februar 1943) und schätzte danach am 11. März 1943 die Zahl der Berliner Juden, deren die SS nicht hatte habhaft werden können, auf 4 000, verkündete aber aus Propaganda-Gründen am 19. Mai 1943: »Berlin ist judenrein!« Die Zahl der versteckten Juden, die bis zum Mai 1945 überlebten, wird von einigen Hundert bis 5000 geschätzt. Nach Informationen, die Gershom Scholem 1946 in Berlin vom Leiter der Jüdischen Gemeinde erhielt, waren es 1500; dabei scheint aber nicht mitgerechnet die Zahl derer, die sich nach dem Krieg bei der Jüdischen Gemeinde nicht meldeten und/oder als »privilegierte Juden« (als Ehepartner von »Ariern«) aufgrund einer unerfindlichen Systematik verschont geblieben waren.
Die Decknamen, die Ruth Andreas-Friedrich in ihren Aufzeichnungen während des Dritten Reiches denen gab, die mit ihr den Verfolgten Hilfe leisteten, hatte sie im Buch beibehalten, teils, da sie nicht wußte, ob die Betreffenden nach I945 mit der offenen Namensnennung einverstanden sein würden, teils auch, weil sie nicht ihre Freunde und sich mit ›Heldentaten‹ schmücken wollte. Inzwischen scheint es aber aus der historischen Distanz und aus Gründen der zeitgeschichtlichen Dokumentation nützlich und notwendig, die Identität derer zu kennen, die unter Decknamen im Buch auftauchen, sowohl in den Aufzeichnungen bis 1945 als auch zum Teil in der Fortsetzung bis 1948; damit wird auch deutlicher, wo die Querverbindungen zu anderen Hitler-Gegnern in den offiziellen Stellen und zu anderen Widerstandsgruppen lagen. Mit Hilfe von Hinweisen der Tochter Ruth Andreas-Friedrichs, Karin Friedrich, und unter Zuhilfenahme der einschlägigen Hilfsmittel konnte soviel ermittelt werden:
»Andrik Krassnow«: Leo Borchard, geboren am 21. März 1899 in Moskau als Sohn deutscher Eltern, 1918 nach Berlin emigriert, Dirigent, Lebensgefährte von Ruth Andreas-Friedrich in den dreißiger und vierziger Jahren. Nach 1945 erster Dirigent der Berliner Philharmoniker; gestorben am 23. August 1945.
»Heike Burghoff«: Karin Friedrich(-Hess), Tochter von Ruth Andreas-Friedrich, geb. 18. 2. 1925, damals Schauspielschülerin; heute Journalistin bei der »Süddeutschen Zeitung«, lebt in Gauting/bei München.
»Frank Matthis«: Walter Seitz, geb. 24. Juli 1905, damals Arzt an der Charité in Berlin. Aus Gründen der Tarnung bisweilen auch »Onkel Emil« genannt – und danach dann die ganze Gruppe. Ging 1947 nach München, 1950 bis 1954 Abgeordneter des Bayerischen Landtags; langjähriger Direktor der Münchner Universitäts-Poliklinik. Lebt in München.
»Flamm«: Günther Brandt, Dr. jur., Landgerichtsrat. Gestorben.
»Hinrichs«: Hans Peters, Dr. jur., geboren 1896, gestorben 1966 in Köln. Damals Major im Luftwaffenführungsstab, obwohl von den Nazis immer mißtrauisch beobachtet. Professor an den Universitäten Breslau, Berlin (Humboldt-Universität) und später Köln. 1940-41 und ab 1948 Präsident der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften. Verbindungsmann der Gruppe »Onkel Emil« zum »Kreisauer Kreis« (vgl. hierzu »Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz«. Bearbeitet von W. E. Winterhager, 1985, S. 72-75).
»Erich Tuch«: Dr. Erich Kordt, geboren 1903, Legationsrat im Auswärtigen Amt, 1941-43 Gesandter bei der Deutschen Botschaft in Tokio und 1943-45 in Nanking, später Professor für Völkerrecht an der Universität Köln; gestorben 1970.
»Karla Simson«: Susanne Simonis, damals zuerst Redakteurin, dann im Auswärtigen Amt, ging mit Kordt nach Japan, später wieder im Auswärtigen Amt; gestorben.
»Hartmann«: Friedeich Wilhelm Heinz, Soldat im Ersten Weltkrieg, Freikorpsangehöriger, SA-Führer, dann aus der NSDAP ausgeschlossen; später Oberstleutnant bei der Abwehr (Canaris); Beteiligung an den Putsch-Plänen des Generals Oster. In den fünfziger Jahren in der BRD im »Amt Blank«. Vgl. zu dieser schillernden Figur auch Margret Boveri, »Der Verrat im 20. Jahrhundert«, Band II, Reinbek b. Hamburg 1956, S. 109 ff., und: Graf Thun-Hohenstein, »Der Verschwörer«, Berlin 1982, S. 52 u. ö.
»Wolfgang Kühn«: Dr. Wolfgang Kühn. Pazifist, lebte von 1934 bis 1942 in Jugoslawien, leistete der Partisanenarmee ärztliche Hilfe, von der Gestapo verhaftet und wieder freigelassen: Arzt am Berliner Paul-Gerhard-Stift. Am 19. Juli 1944 erneut verhaftet, überlebte die Haft.
»Ludwig Wald«: Ludwig Lichtwitz, Buchdruckermeister; später in Berlin-West; Jude. Gestorben.
»Jo Thäler«: Dr. Josef Schunk, damals Luftwaffenstabsarzt; später im Innenministerium in der Abteilung für Zivilschutz. Heute pensioniert.
»Fabian Trooth«: Fred Denger, geboren 1920 in Darmstadt, Schriftsteller und Schauspieler. 1982 gestorben.
»Der dicke Hollner«: ?
»Tegel«: Dr. Harald Poelchau, geboren 1903, Theologe, Assistent von Paul Tillich 1932, ev. Gefängnispfarrer in Tegel (Ploetzensee). Autor des Buches »Die letzten Stunden«, Berlin 1949. Gestorben 1972. Zweiter Verbindungsmann der Gruppe »Onkel Emil« zum »Kreisauer Kreis« (vgl. hierzu »Der Kreisauer Kreis« bearb. von W. E. Winterhager, 1985, S. 54-57).
»Gregor Schub«: Wolfgang Schmidt von der kommunistisch orientierten »Widerstandsgruppe Ernst«, wanderte 1946 nach Australien aus; zu seiner Gruppe gehörten auch Alex Vogel, der Graphiker Schwabe, Borris von Borresholm. Vgl. hierzu auch das Nachwort von Klaus Drobisch zur DDR-Ausgabe von Ruth Andreas-Friedrichs »Der Schattenmann«, Berlin 1972, S. 275 ff.
»Zweidorf«: Gottfried von Einem, geboren 24.1.1918, Komponist.
»Konrad Bauer«: Wünscht nicht, daß sein wahrer Name genannt wird; lebt noch.
Die Flurnachbarin im Haus, in dem Ruth Andreas-Friedrich in Berlin wohnte (Steglitz, Hünensteig 6): Frau Held, beherbergte ( = versteckte) damals ebenfalls einen Untergetauchten, Bernhard Pampuch, der von seiner Frau getrennt war, die 1938 bis 1946 in sibirischen Straflagern saß: die Schriftstellerin Wanda Bronska-Pampuch. Frau Held lebt heute in der Schweiz.
»Vetter«: Ewald Vetter, Maler, Verbindungsmann zwischen Walter Seitz und Alex Vogel.
Und nun wären von den »Vizeeltern« der Autorin – dem bereits genannten Ehepaar Ernst und Margarete Salomon; vgl. die Eintragung unterm 15. Oktober 1938 – bis zu Ursel Reuber und Eva Gerichter vielleicht teilweise noch die Lebensdaten eruierbar und aufzuführen; diese Lebensläufe enden meist – soviel ist bekannt und in unserem Deutschland, das von 1933 bis 1945 wahrhaft ein Schlachthaus war, ja nicht ungewöhnlich – »mit emigriert«, »hingerichtet«, »im KZ ermordet« oder »bei Luftangriffen getötet«. Es genüge, daß aus der großen Zahl der namenlosen oder vergessenen Helden und Opfer Ruth Andreas-Friedrich stellvertretend einige Namen bewahrt hat, auch jene Decknamen, die durch ihre damalige Funktion und die Taten, die ihre Träger geleistet haben, eine eigene Würde erlangt haben. »So unvorstellbar ist das Grauen, daß die Phantasie sich sträubt, es als Wirklichkeit zu begreifen« – dieser Satz von Ruth Andreas-Friedrich, niedergeschrieben am 4. Februar 1944, als sie sich das Schicksal der Deportierten vor Augen stellt, könnte als Motto und Summe über dem ganzen Buch stehen, diesem deutschen Lesebuch in der abgründigsten Bedeutung des Wortes.
Die sechs zentralen Mitglieder der Gruppe »Onkel Emil«, die weniger aus politischen als aus ethisch-humanitären Motiven unter dem Nazi-Regime Verfolgten geholfen hatte, gaben am 14. Mai 1945 und dann noch einmal in einem Nachtrag vom 1. März 1946 einen kurzen Rechenschaftsbericht über ihre Hilfs-und Widerstandsarbeit zwischen 1938 und 1945. Ein Exemplar dieses »Tätigkeitsberichts«, der, wie Karin Friedrich vermutet, auf Anforderung einer russischen Stelle in Berlin oder zur Vorlage dort geschrieben wurde, findet sich, gebunden und beschnitten, im Besitz von Karin Friedrich; ein weiteres, das aussieht wie die einzelnen Blätter eines Bürstenabzugs, ist aufbewahrt unter der Signatur ED 106/39 im Münchner Institut für Zeitgeschichte. Da das Dokument nur auszugsweise zitiert ist in Günther Weisenborns »Der lautlose Aufstand« (Hamburg (1953; 4. verbesserte Auflage Frankfurt/Main 1974, S. 120/121) und weitere Informationen über Personalia und Selbstverständnis der Gruppenmitglieder bietet, sei es hier vollständig zitiert:
Tätigkeitsbericht der Gruppe »Onkel Emil« aus den letzten Monaten der Kampfjahre
Die Gruppe »Onkel Emil« setzt sich aus folgenden Mitgliedern
zusammen:
Stammgruppe:
Leo Borchard, Dirigent,
Fred Denger, Journalist,
Karin Friedrich, Schauspielerin
Ruth Friedrich, Schriftstellerin
Josef Schunk, Arzt
Berlin-Steglitz, Hünensteig 6
Walter Seitz, Facharzt, Dozent, Berlin-Zehlendorf, Schillerstraße 10
genannt »Onkel Emil«
Aktive Mitarbeiter:
Fritz von Bergmann, Pharmakologe, Berlin-Wannsee, Lindenstraße 3
Curt Eckmann, Vorarbeiter, Berlin-Wilmersdorf, Bregenzerstraße 9
Benno Kaminsky, Kaufmann, Berlin-Wilmersdorf, Paulsbornerstraße 92
Ludwig Lichtwitz, Meister d. Buchdruckgewerbes, Berlin- Charlbg., Kantstr. 30
Dagmar Meyerowitz, Kontoristin, Berlin-Steglitz, Hünensteig 6
Hans Peters, Professor f. öffentl. Recht, Berlin-Charlottenburg, Herbarthstr. 16
Harald Poelchau, Gefängnispfarrer, Berlin-Tegel, Afrikanische Straße 104 b
Walter Reimann, Konditormeister, Berlin-Charlottenburg, Kantstraße 153
Charlotte Reimann, Ehefrau, Berlin-Charlottenburg, Kantstraße 153
Ursula Reuber, Studentin (Zwangsarbeiterin), Berlin-Dahlem,
Ihnestraße 40 verstorben
Joachim Graf von Zettwitz, Arzt und Schriftsteller, Berlin-Stahnsdorf,
Heidestraße 13
Von den aufgezählten Mitgliedern haben politische Freiheitsstrafen verbüßt:
Kaminsky, Lichtwitz, Schunk, Zettwitz.
Von den aufgezählten Mitgliedern sind aus der Haft ausgebrochen:
Kaminsky, Lichtwitz.
Von den aufgezählten Mitgliedern lebten illegal:
Kaminsky, Lichtwitz, Schunk, Seitz.
Von den aufgezählten Mitgliedern wurden von der Gestapo durch Fahndungsbrief gesucht:
Kaminsky, Lichtwitz, Seitz.
Von den aufgezählten Mitgliedern sind aus Opposition gegen das Naziregime desertiert bzw. haben sich dem Militär- und Volkssturmdienst bewußt entzogen:
Borchard, Denger, Poelchau, Walter Reimann, Schunk, Seitz, Zettwitz.
Von den aufgezählten Mitgliedern haben sich dem Zwangsarbeitsdienst bewußt entzogen:
Denger, Karin Friedrich, Ruth Friedrich, Charlotte Reimann.
Von den aufgezählten Mitgliedern sind Juden bzw. Halbjuden:
Kaminsky, Lichtwitz, Meyerowitz, Reuber.
Aufgeführt sind hier ausschließlich die antinazistischen Handlungen der Gruppe während der letzten Monate, nicht aber die zahlreichen Gesamt- und Einzel-Aktionen während der ganzen Dauer des Naziregimes.
Beherbergung und Betreuung von Untergetauchten und politischen Flüchtlingen, sowohl Gewährung von vorübergehenden Quartieren als auch Beschaffung von Dauerwohnungen. Beschaffung von Lebensmitteln und Lebensmittelkarten bzw. Kartenmonatssätzen für Untergetauchte durch Sammlung von einzelnen Lebensmittelmarken im gesamten Bekanntenkreis und Verzicht auf einen Teil der eigenen Karten.- Als im Laufe der letzten Monate die Zahl der Untergetauchten in so großem Umfange zunahm, daß bei der gleichzeitigen Senkung der Lebensmittelzuteilungen eine ausreichende Versorgung der Bedürftigen gänzlich unmöglich wurde, entschlossen wir uns, zur Selbsthilfe zu schreiten und – ausschließlich zu Gunsten der Getauchten – eine groß angelegte Hilfsaktion in die Wege zu leiten. Es gelang, zu diesem Zweck durch eine geschickt durchgeführte Maßnahme aus einer Kartenstelle so viele Papiere herbeizuschaffen, daß eine großzügige Unterstützung zahlreicher politischer Flüchtlinge möglich wurde.
Sämtliche Hilfsaktionen standen den Untergetauchten selbstverständlich ohne jede Gegenleistung zur Verfügung. Versorgung Untergetauchter und politischer Flüchtlinge mit Ausweispapieren, roten und weißen Volkssturmscheinen, Fahrberechtigungsausweisen, Dienstreiseausweisen für Wehrmachtsangehörige, Verkehrsausweisen, Wehrpaßausweis-Ersatzkarten usw., durch Falschdruck von Naziausweisen und Fälschung von Nazi-Stempeln. Entziehung zahlreicher Nazigegner vom Wehr- und Volkssturmdienst durch Ausstellung entsprechender ärztlicher Atteste und künstliche Herbeiführung von Krankheitszuständen.
Werksabotage gegen die Kriegsmaschine Hitlers, u. a. Durchschneidung zahlreicher für die Verteidigung Berlins wichtiger Kabelleitungen in und um Berlin, wie Fernsprechkabel, Sprengkabel usw. Unbrauchbarmachung kriegswichtiger Maschinen und Rohstoffe.
Entfernung von Nazihoheitssymbolen, von Naziaufrufen, nazistischen Maueranschlägen und ähnlichen Nazipropagandamitteln. Weiterleitung politischer Informationen und Lageberichte ins Ausland.
Einsatz für zahlreiche politische Strafgefangene, um ihr Los zu erleichtern, die Verbindung mit der Außenwelt herzustellen oder ein milderes Strafmaß zu erwirken. Betreuung der Familienmitglieder von Gefangenen und zum Tode Verurteilten. Unterstützung ausländischer Arbeiter (Franzosen, Holländer, Belgier, Polen) durch Verabreichung von warmen Mahlzeiten, Zigaretten, Kleidungsstücken, Waschmitteln, Verbands- und Nähzeug. Beihilfe zur Flucht von ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen. Einsatz sämtlicher Mitglieder in der »NEIN«-Aktion der Widerstandsgruppen Ernst, wobei unsere Gruppe in der Nacht vom 18. zum 19.4.1945 in den Stadtteilen Steglitz, Südende, Schöneberg, Wilmersdorf, Friedenau und Zehlendorf mit Ölfarbe und Kreide das »NEIN« als Ausdruck der Ablehnung des Hitlerregimes und der weiteren sinnlosen Kriegsfortsetzung an sämtlichen ins Auge springenden Punkten aufmalte und niederschrieb. In der Nacht vom 19. zum 20.4.1945 wurden von denselben Mitgliedern in denselben Stadtteilen Hunderte von Flugblättern angeklebt und verteilt, die den Sinn des »NEIN« erläuterten und zum aktiven Widerstand gegen Hitler aufforderten. Während der letzten Kampftage Aufspürung und Bekämpfung von Wehrwölfen.
Abschließend sei betont:
Keines der Gruppenmitglieder hat jemals der Partei angehört oder zum Nutzen der Partei gearbeitet. Jedes der Mitglieder hat sich im Gegenteil bemüht, wo immer es in seinen Kräften stand, Opposition zu treiben – sei es durch passiven Widerstand in Form von Ablehnung des »deutschen Grußes«, Nichthissen der Nazifahne, Nichtaufhängen von Hitlerbildern, keinerlei Teilnahme an Parteiveranstaltungen, keinerlei Förderung und Unterstützung von Sammelaktionen, weder Kauf noch Verbreitung von Nazischriften – sei es durch aktiven Widerstand, durch regelmäßiges Abhören und systematische Weiterverbreitung der ausländischen Nachrichten, Einschmuggeln und Weiterleiten antifaschistischer Bücher, Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen und Schallplatten, antifaschistische Materialsammlung ab 1933, Vervielfältigung nazifeindlichen Schriftwerks, Unterminierung und Zersetzung der nazistischen Weltanschauung, wo immer sie uns entgegentrat.
Alle Gruppenmitglieder haben während des Naziregimes größtenteils erhebliche persönliche und berufliche Opfer gebracht. Sie fühlten sich verpflichtet, bis zuletzt unmittelbar am Ort der Gefahr für ihre Überzeugung einzutreten und alle Bemühungen daranzusetzen, im Dienste der Menschlichkeit zu wirken.
Berlin, den 14. Mai 1945.
Leo Borchard
Dr. Walter Seitz
Fred Denger
Ruth A. Friedrich
Dr. Josef Schunk
Karin Friedrich
Nachtrag
vom 1. März 1946
In der Zeit zwischen dem 14. Mai 1945, an dem der Tätigkeitsbericht der Gruppe »Onkel Emil« aus den letzten Monaten der Kampfjahre abgeschlossen und unterschrieben wurde, und der Gegenwart haben sich bei verschiedenen Mitgliedern der Gruppe wesentliche berufliche und personelle Änderungen ergeben, die nachstehend mitgeteilt werden:
Stammgruppe:
Leo Borchard, Seit Mai 1945 Leiter und Dirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters. Mitglied des Präsidialrats in der Kammer der Kunstschaffenden und im Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands. Tödlich verunglückt am 23. August 1945.
Fred Denger, Autor des Bühnenverlages Gustav Kiepenheuer, Berlin. Verfasser des Schauspiels »Wir heißen Euch hoffen« und der Tragödie »Hunger«. Beide Stücke wurden von Intendant Gustav von Wangenheim zur Uraufführung im Deutschen Theater erworben. Premiere von »Wir heißen Euch hoffen« am 3. April 1946.
Karin Friedrich, Schauspielerin am Hebbel-Theater (in der Stresemannstraße) unter der Intendanz von Karl-Heinz Martin. Erste größere Bühnenrollen: Ruth Mamlock in »Professor Mamlock« von Friedrich Wolf. Spatz in »Die Illegalen« von Günther Weisenborn.
Ruth Friedrich, Verfasserin des Buches »Nein. Aufzeichnungen aus den Jahren 1938-1945«. Lizenzträgerin und Mitherausgeberin der Frauen-Wochen-Zeitung »Sie«. Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.
Josef Schunk, Oberarzt der Inneren Abteilung des Augusta-Viktoria-Krankenhauses, Berlin-Schöneberg, Canovastraße.
Walter Seitz (Onkel Emil). Professor für Innere Medizin an der Universität Berlin (Charité, I. Med. Klinik), Chefarzt der Städtischen Krankenhäuser Steglitz und Lankwitz. Verfasser des im Verlag Urban & Schwarzenberg erscheinenden Lehrbuchs für Infektionskrankheiten. Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.
Aktive Mitarbeiter:
Fritz v. Bergmann, Abteilungsleiter in der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen der Sowjetischen Okkupationszone. Mitherausgeber der Medizinischen Wochenzeitschrift »Das Deutsche Gesundheitswesen«.
Ludwig Lichtwitz, Inhaber der Buchdruckerei Max Lichtwitz. Komm. Leiter der Eyck’schen Buchdruckerei. Beide: Berlin C 2, Dircksenstraße 47. Wirtschaftsbeirat für das Buchdruckgewerbe beim Magistrat Charlottenburg.
Dagmar Meyerowitz, Dolmetscherin für Englisch bei der Amerikanischen Militärregierung, Frankfurt a. Main.
Hans Peters, Professor für Öffentliches und Verwaltungsrecht an der Universität Berlin. Professor an der Technischen Hochschule Berlin. Lizenzträger und Mitherausgeber der politischen Monatszeitschrift »Das Fundament«. Vorsitzender des verfassungspolitischen Ausschusses der Christlich-Demokratischen Union.
Harald Poelchau, Vortragender Rat in der Deutschen Justizverwaltung. Referent für den Aufbau des Strafvollzugs. Bis Januar 1946 Generalsekretär des Evangelischen Hilfswerks in Deutschland.
Walter Reimann, Inhaber von Konditorei und Restaurant Reimann, Berlin W 15, Kurfürstendamm 62 (Ecke Leibnizstraße).
Joachim Graf von Zettwitz, Oberarzt am Krankenhaus Prenzlauer Berg, Berlin NO 55, Christburgerstraße 7.
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Ruth Andreas-Friedrich hatte ihre Aufzeichnungen nach dem Ende des Krieges fortgesetzt und sie 1949, in ihrem ersten Jahr in Westdeutschland, zu einem zweiten Manuskript zusammengestellt, das den Titel »Schauplatz Berlin« trägt. Auch diese Aufzeichnungen erweisen die Autorin als scharfsichtige Beobachterin der Stadt Berlin und ihrer Landsleute, die sich nun mit einer atemberaubenden Mischung aus Verdrängung, Anpassungsbereitschaft, Glücksgefühl der Davongekommenen und Tapferkeit an das tägliche mühevolle Geschäft des Überlebens, Trümmerräumens und Aufbauens machen. Die Notizen der Jahre 1945 bis 1948 sind bewegend und niederschmetternd aus zwei Gründen: weil sie ein knappes, schmerzensreiches, aber nicht selbstmitleidiges Bild des aufs jämmerlichste darniederliegenden Berlin geben, dessen Hunger, Kälte und Elend wir uns kaum noch vorzustellen vermögen, und weil sie zugleich geprägt sind von der entsetzten Ahnung der Autorin, daß ihre Hoffnungen auf eine Erneuerung Deutschlands aus Vernunft und Scham illusorisch sind. Die Notizen sind das unbestechliche Dokument des Scheiterns eines wirklichen Neuanfangs in Deutschland, abgelesen am Modell Berlin – eines politischen und moralischen Scheiterns aus einer Vielzahl von Gründen. Das beginnt damit, daß noch beim Einsichtigsten, zum Umdenken Bereitesten der Hunger und also der Schwarzmarkt konkreter war als die »Kollektivschuld«; hinzu kam, daß die Angst vor der Gestapo leider mit guten Gründen leicht auszutauschen war gegen die Angst vor den Russen, die mit den bekannten Begleiterscheinungen ihren Sieg über das Land feierten, das zwischen 1941 und 1945 sie überfallen und 20 Millionen ihrer Landsleute ermordet hatte; daß die Deutschen nach 1945 nicht die Bekanntschaft mit Rußland, sondern mit dem stalinistischen Rußland machten, bereitete auf fatale Weise den Boden für die antirussischen Ressentiments, deren sich auch die Amerikaner bei ihrer Psychologie des Kalten Krieges bedienen konnten. »Wie ein Spuk ist das Dritte Reich zerstoben« – das Erstaunen und die Erleichterung über den Zusammenbruch des Hitler-Regimes verflogen aber fast ebenso schnell, und schon im Mai 1945, bei der ersten interalliierten Krise, zeichnete sich die Ost-West-Konfrontation ab, die Berlin in eine Frontstadt verwandelte. Bis heute ist schwer im Detail nachzuweisen, durch welches Zusammenspiel von Faktoren und Absichten, durch welche Mißverständnisse und welche langfristig angelegte Machtpolitik es dazu kam, daß sich dann im Frühjahr 1947 der Eiserne Vorhang über Europa und quer durch Deutschland zu senken begann. Die Ströme von Flüchtlingen durch das nach Leichen stinkende Berlin, die Zwangsvereinigung der SPD und der KPD zur SED (von der Autorin, die am 1. Oktober 1945 in die SPD eingetreten war, besonders verzweifelt beobachtet), die Problematik der Entnazifizierungen, die so schematisch und ahnungslos durchgeführt wurden, daß der Notwendigkeit, zwischen den harmlosen und den wirklich üblen Parteigenossen zu unterscheiden, praktisch nie Rechnung getragen wurde, die psychologisch fatale Wirkung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse auf einen Teil der Bevölkerung und die Trotzreaktionen hervorrufende These von der »Kollektivschuld«, die moralisch so total war, wie das Regime der Nazis politisch total gewesen war, der Hungerwinter von 1946/47, unter dem die Berliner mehr als der Rest des besetzten Deutschland litten, schließlich die Blockade Berlins – dies alles verhinderte eine fruchtbare Besinnung der Deutschen und trug dazu bei, jene Situation vorzubereiten, in der wir uns heute befinden: Wir sind der militärische Vorposten der beiden Weltmächte, und es könnte sein, daß das, was sich an der Viersektorenstadt Berlin schon besonders deutlich in den Nachkriegsjahren zeigte, nur das Vorspiel zu dem war, was sich trotz des Aufschubs, den wir in den letzten dreißig Jahren ziemlich bewußtlos genossen haben, in unserem Land auf unserem Boden endgültig vollziehen könnte. In diesem Sinne ist wohl auch der ominöse Satz zu verstehen, mit dem Günter Gaus 1983 sein Buch »Wo Deutschland liegt« eröffnete: »Deutschlands Unglück hat sein volles Maß noch nicht erreicht.« Ruth Andreas-Friedrich mußte nach 1945 voller Enttäuschung erleben, wie sich auch die Mitglieder ihrer kleinen Widerstandsgruppe politisch verschieden orientierten und der kleine »Stoßtrupp«, der »Ringverein«, die »Gruppe Onkel Emil« sich verstreute: »Aus Verbündeten von gestern beginnen politische Gegner zu werden.« Mit geradezu prophetischem Blick die Ereignisse des 13. August 1961 vorausahnend, notierte sie schon am 6. September 1948: »Möglich, daß wir ab morgen zwei Stadtregierungen und eine chinesische Mauer mit Wehrgang und Wachtürmen längs der Sektorengrenze haben. Vielleicht braucht man dann wirklich ein Auslandsvisum, um von Charlottenburg nach den Linden zu fahren.« Ihre Arbeit, zunächst an der Zeitschrift »sie«, später an ihrer eigenen Zeitschrift »lilith«, wurde immer frustrierender, da unter den Bedingungen der Blockade Zeitschriften aus Papiermangel kaum noch erscheinen konnten. Am 29. Dezember 1948 verläßt sie das geliebte Berlin. » … hier zwischen den Trümmern leben, heißt nicht viel anderes, als schon in seinem eigenen Sarge schlafen«, schrieb Gottfried Benn am 26. Dezember 1945 an F. W. Oelze aus Berlin; in diesem Sarg, diesem »Gefängnis«, wie Ruth Andreas-Friedrich es nannte, konnte sie nicht mehr leben.
Was sie uns hinterließ, ist nicht große Sprachkunst. Aber das war ja auch nicht ihr Ziel. »Dieses Buch will kein Kunstwerk sein. Dieses Buch ist Wahrheit«, lautet der erste Satz ihres Vorworts zu »Der Schattenmann«. Er klingt zum Verwechseln ähnlich wie Sätze aus Wolfgang Weyrauchs Forderung nach einer »Kahlschlag«-Literatur von 1949 oder wie die in der Zeitschrift »Der Ruf« 1946 formulierte Ablehnung von »Kalligraphie, von schönschreiberischer Literatur, durch Gustav René Hocke. Das Tagebuch stelle, so meinte Robert Musil verächtlich, die »bequemste, zuchtloseste Form« der Literatur dar, aber das kann im Zweifelsfall auch sein Gutes haben: wenn nämlich Vollendung gar nicht gefragt ist und nur verlogen wirken würde. Ruth Andreas-Friedrich hat das Kunststück fertiggebracht, ihr privates Tagebuch in ein öffentlich interessierendes zu überführen, ohne nun im alten Sinn wieder Literatur daraus zu machen. Ihre beiden Bücher sind wohl vor allem deshalb so – sagen wir ruhig: spannend – lesbar, weil sie ihren Aufzeichnungen den hastigen, hingeworfenen, unprätentiösen Duktus ihrer Original-Notizen erhalten hat und weil ihr gewissermaßen naiv eine ganze Skala von Möglichkeiten ganz unauffällig zur Verfügung steht, von der flüchtigen Eintragung über die bezeichnende Miniatur (»In den Kneipen sitzen sie wie jede Nacht. Trinken ihr Bier, ihren Korn, und über der Theke steht: ›Der Deutsche grüßt mit Heil Hitler!‹ Daneben vergilbt ein Spruch: ›An Gottes Segen ist alles gelegen.‹ Und ein grellfarbenes Reklameplakat: ›Dornberg-Liköre sind die besten.‹«– Eintragung vom 27. September 1938) bis zur Reportage, die, aus Einzeleintragungen ganz beiläufig zusammengesetzt, bisweilen sich doch zu einem Bild von Deutschland und den Deutschen im Elend verdichtet. Besonders intensiv sticht in »Schauplatz Berlin« die Schilderung ihrer Fahrt nach Hannover und Hamburg zwischen 7. und 16. Februar 1947 hervor; hat man jemandem ganz unspektakulär klarzumachen, was die Realität des geschlagenen Deutschland war, muß man nur auf die Schilderung der Nacht im Bahnhof Hannover verweisen. Sicher hat Ruth Andreas-Friedrich dabei nicht in dem Maße, wie wir es heute vielleicht erwarten würden, die Diktion der einzelnen Personen gewahrt, sondern den Ton etwas vereinheitlicht bei der Rekonstruktion und Rekapitulation der Ereignisse und der Ausformulierung von Stichworten des ursprünglichen Tagebuchs; ihre Tochter Karin Friedrich bemerkte zum Beispiel, Leo Borchard, der Freund ihrer Mutter, sei in Wirklichkeit nicht so salopp, eher ein »Herr« gewesen, und der Musiker»Konrad Bauer«, der nicht wünscht, daß sein wahrer Name preisgegeben wird, fühlt sich nicht ganz zutreffend dargestellt, war aber wohl doch so tollkühn, wie Ruth Andreas-Friedrich ihn sah. Was bedeutet, daß wir an vielen Stellen entschieden durch die Brille der Autorin sehen, doch dem Sinn und der Essenz des Dargestellten wird sie offenbar immer und ohne Verfälschung gerecht.
In Peter Weiss’ »Notizbüchern 1971–1980« stößt man auf die Eintragung: »Hünensteig, Steglitz: die Wohnung von Ruth Friedrich, der Freundin unserer Familie während meiner Jugend.« (edition suhrkamp 1067, Band I, S. 176). Das bezieht sich nicht auf die Realität der Fiktion in der »Ästhetik des Widerstands«, sondern auf die außerliterarische Realität: die Familien Friedrich und Weiss waren in der Tat befreundet schon im Berlin der Vor-Nazi-Zeit, und jene Reise nach Schweden, von der Ruth Andreas-Friedrich an der zitierten Stelle des Vorworts zum »Schauplatz Berlin« (1964) berichtet, galt auch dem Besuch bei Peter Weiss’ Eltern in Alingsas und führte zu dem Zusammentreffen mit der Tochter von Ossietzy, mit der auch Peter Weiss befreundet war. Als er 1947 im Auftrag von »Stockholms Tidningen« von Juni bis August in Deutschland ist, nimmt er mit Ruth Andreas-Friedrich wieder Kontakt auf und erwähnt in seinem Zeitungsbericht vom Juni über eine Buchausstellung in Berlin auch Ruth Friedrich als eine der »Stimmen, die von der Gefangenschaft und dem Zusammenbruch« im Dritten Reich und des Dritten Reiches berichten (P.W., »Die Besiegten«. Aus dem Schwedischen von Beat Mazenauer. edition suhrkamp 1324, Frankfurt 1985, S. 129); er hat ihr Buch damals schon, noch als Typoskript oder gleich bei Erscheinen, gelesen. Vielleicht war es, Jahre später, Anfang der achtziger Jahre, das Wissen, daß auch Menschen wie Ruth Andreas-Friedrich und ihre Mitverschworenen und nicht nur Nazis in Hitlers Berlin gelebt hatten, was ihn Anstalten treffen ließ, sich eine Wohnung in Berlin zu nehmen und wenigstens einen Teil des Jahres in Berlin zu verbringen. Dazu ist es nicht mehr gekommen, aber die Zufälle der verlegerischen Programmplanung bringen doch bisweilen auch etwas im höheren Sinn Richtiges zustande: Ruth Andreas-Friedrichs »Der Schattenmann« und Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« erschienen 1983 nebeneinander als preiswerte Sonderausgaben in Suhrkamps »Weißem Programm« und gehörten zu den erfolgreichsten Titeln des Programms. Die Schönheit der den künstlerischen Anspruch unterlaufenden Tagebücher von Ruth Andreas-Friedrich liegt in dem, was Peter Weiss die ›Ästhetik des Widerstands‹ genannt hat: das Gute ist schön. Ihre Bücher und sein Buch haben Namen gerettet und arbeitendem Vergessen entgegen. Gänzlich sinnlos wären die Opfer erst gestorben, wenn nicht einmal mehr ihre Namen erinnert würden.
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Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt bei »Der Schattenmann« der deutschsprachigen Erstausgabe von 1947; für »Schauplatz Berlin« diente als Druckvorlage ein Typoskript Ruth Andreas-Friedrichs von 1949, in dessen erstem Drittel sich Spuren einer Bearbeitung des Textes im Sinne leichter stilistischer Verbesserungen und kleiner Kürzungen finden, die sie selbst vorgenommen hat. Bei den Eintragungen zum 26. und zum 29. Dezember 1948 habe ich in Absprache mit Karin Friedrich zwei kurze Passagen eingefügt, die in der von Ruth Andreas-Friedrich ja noch nach der Niederschrift von 1949 redigierten und gebilligten Ausgabe von 1962 enthalten sind und nach ihrem Wunsch – soweit erkennbar – auch darin bleiben sollten.
Für Rat und Hilfe danke ich Karin Friedrich/Gauting, Richard Albrecht/Mannheim und dem Institut für Zeitgeschichte in München.
München, 24. Mai 1986
Jörg Drews: Nachwort. In: Ruth Andres-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1986, S. 291-313.