Jörg Drews: Zwei Lebensmelodien. „Ihre Musik“: Thomas Stangls zweiter Roman
Zwei Frauen, Mutter und Tochter, im Wien unserer Tage, im Viertel Leopoldstadt, wie sie nebeneinander her leben und schließlich verlöschen – das klingt als Kurzbeschreibung von Handlung und Ort von Thomas Stangls neuem Roman wenig sensationell, wenig dämonisch, kaum exzeptionell. Waren doch in seinem vorigen – bei der Kritik 2004 sehr erfolgreichen – Buch zwei extreme Existenzen, zwei bizarre Helden im frühen 19. Jahrhundert – 1825/29 – auf dem Weg nach Timbuktu (von dem man damals noch nicht einmal die genaue Lage wusste), waren unter unsäglichen Mühen und schrecklichen Krankheiten ihrem Traum gefolgt, was einen von beiden das Leben kostete. „Der einzige Ort“ (so der Titel), den es für die beiden Monomanen noch gab, schloss bis zum Wahnwitz alle anderen Orte der Welt aus; ihre Reise war ein Sich-Hineinwühlen ins Unbekannte und Gefährliche und die Beschreibung der Reise dieser (historischen) Helden Laing und Caillié selbst ihrerseits im Blick verengt auf einen beklemmenden Tunnelblick; das war wuchtig in seiner Intensität und kriegte obendrein etwas ab vom Reiz des Exotischen: Afrika, der dunkle Kontinent …
Nichts davon in „Ihre Musik“. Mutter und Tochter in symbiotischer Lebensgemeinschaft, älter werdend, auseinanderdriftend, krankhaft rücksichtsvoll und grausam, rätselhaft unfrei vor sich hin rottend, Alltag um Alltag addierend zu Lebensläufen, die nicht einfach farblos, sondern grau sind, und dies, wie gesagt, in jenem harmlosen Viertel, dessen Lokalitäten man, wenn man wollte, aufsuchen könnte – das ist ja sachlich alles der Gipfel des Unspektakulären. Aber Stangls Können und Kraft liegt im rücksichtslos Unheimlichen, wie in seinem ersten, so auch in seinem zweiten Roman, in einer durchgehaltenen Intensität der Beobachtung , mit dringlicher Empathie in seine Figuren hinein, deren Befinden er drängend und unablässig beschreibt, nicht auf Tempo und action versessen, von außen auf sie schauend, dann wieder voll Einfühlung aus ihnen herausschauend, zwischen ihren Lebens- und Erlebniswelten verwirrend unauffällig gleitend.
Emilia, die Ältere, Dora, die Jüngere, sie sind scheinbar selbständige Existenzen, die eine Kind und Studentin und dann wohl Promovendin, die andere, die Mutter, wohl von ihrem Mann, dem Vater des Kindes verlassen, immer Schreibmaschine schreibend (nie erfahren wir, was sie so diszipliniert und offenbar damit ihr Leben stabilisierend schreibt), aneinander gebannt aus Angst und Lebensuntüchtigkeit. Und wie ein Medium – aber eben als Erzähl-Medium, nicht als eine eigenständige, Kontur gewinnende Gestalt – dazwischen der Erzähler, halb sich für die Wahrheit des Erzählten verbürgend, die ganze Sphäre aber nur tangential streifend, durch die Leopoldstadt geisternd, mal kurz bei den „Barmherzigen Brüdern“ einquartiert. Er sagt nur selten „ich“ und spielt keine eigene Rolle. Das Verstörende, das Unheimliche kommt einzig von dem rätselhaften, nie psychologisch gedeuteten Zusammenleben der beiden Frauen in einer aufgeräumten, aber zugleich immer wie schmuddelig wirkenden Wohnung, die ‚zu groß’ ist für zwei, aber eben auch ein Nebeneinanderleben möglich macht, weil man – was so praktisch wie neurotisch ist – ausweichen kann. Emilia und Dora sind so stumm, quasi-heruntergekommen und leicht zerlumpt wie Figuren bei Beckett oder – in die Gegend passend – der arme Spielmann von Grillparzer; beide haben bessere Tage gesehen, Bilderfetzen aus Urlauben an der See ziehen bisweilen durch ihr Gemüt, auch vergangene Möglichkeiten einer akademischen Karriere bei Dora sind angedeutet, doch nun stecken die beiden in dem alten Haus irgendwo zwischen Augarten und Donaukanal fest, die Chronologie wird vage, „Zeitschichten schieben sich übereinander, es fällt ihr schwer, den einzelnen Moment zu finden.“
Die Aufmerksamkeit für die Welt wird von Mutter wie von Tochter immer weiter abgezogen, schließlich liegen sie nur noch „auf den eigenen Herzschlag lauschend“ und mit dem Gefühl, „wie dies alles langsam unmöglich wird“, gekrümmt in einem Sessel. „Dies alles“ – das ist das normale, strebsam zielgerichtete Leben bei Dora, für Emilia aber heißt dies: „Die letzten sechs Jahrzehnte lösen sich wie eine abschmelzende Eisscholle vom Wirklichen, von dem Land, in dem sie sich mit kaum erinnerter Sicherheit bewegt …“ Beide sind nur noch körperlich in der Welt.
Rätselhaftigkeit und Verstörung sind nicht auf exotisch Entferntes angewiesen, entspringen jetzt bei Stangl auch überraschend und rücksichtslos den genau betrachteten Psychen der unspektakulären Nachbarschaft. Kein Erzähler hilft uns in „Ihre Musik“ bei der Deutung, es wird immer nur so viel gesagt, wie im Bewusstsein der beiden Frauen ist, von denen und aus denen erzählt wird. Das aber ängstigt den Leser; wir wollen uns ja gerne, um uns sicher zu fühlen, wissend über das Romanpersonal erheben oder doch in eine psychosanitäre Distanz einnehmen können, und das wirksam uns treffende Unbehagen kommt daher, dass der Erzähler uns das verweigert, und schroff und unerklärt stehen da auch die blitzschnellen, momentanen Einbrüche ins Bewusstsein der älteren Frau: Sie sieht für eine Sekunde einen Mann eine Zigarette im Nacken eines Jungen ausdrücken. Was ist das?
Jedenfalls ein plötzliches Verschwinden festen Bodens…
Der Fluchtpunkt des Erzählens ist dann eine gelähmte Dora im Rollstuhl, durch den Park geschoben von Emilia, wie sie einst ihren Kinderwagen schob. Gebadet und gepflegt, regrediert, will sich aus Welt fallen lassen und gibt sich auf. Welche Krankheit sie so reduziert, erfahren wir nicht, es ist eigentlich auch gleichgültig. Aber was wir erfahren – und hier gelingen Stangl Prosapassagen von unerhörter Größe; man muss davon derart emphatisch sprechen – : Wie es ist, wie es für sie selbst ist, als Dora stirbt; Stangl riskiert es, dies aus ihrer Perspektive zu erzählen. Es ist, als flöge ihrer Seele davon, es ist bewegend und keine Sekunde peinlich. Erzählerisch ist das unglaublich, dergleichen hat man lange nicht mehr in der Literatur gelesen, und es ist so feierlich und genau, wie zehn Seiten später das Ende der Mutter. Sie hat ihre Tochter eine unbestimmte Zeit überlebt, ‚tröstet’ sich fast und will dann doch weg aus dieser Welt, sie ‚stirbt’ nicht eigentlich, sondern sich entgrenzend löst sie sich auf. Der Dichter Thomas Stangl spielt hier mit höchstem Einsatz, und er hat alles gewonnen. Diese letzten 25 Seiten schließlich sind unheimlich, menschenfreundlich und über die Maßen kühn.
Drews, Jörg: „Wie alles langsam unmöglich wird“. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 8. 12. 2006. (Zu: „Ihre Musik“. Roman. Droschl Verlag, Graz – Wien 2006). (Manuskriptfassung)